Kreuzberger Chronik
Juni 2013 - Ausgabe 148

Mein liebster Feind

20. Brief


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von Kajo Frings

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Meine liebe Frau Neumann, ich habe den Eindruck, wir schreiben zunehmend aneinander vorbei. Und da Sie zu grundlegenden Debatten über Demokratie, Wahlen oder Volksbegehren offensichtlich nicht bereit sind, sollten wir daran denken, unsere langjährige Brieffreundschaft endlich zu beenden. Der Leserbrief der Initiative »Leiser Bergmannkiez« in der letzten Ausgabe dieses kleinen Journals war sachbezogen und meines Erachtens interessanter als Ihre weitschweifenden, bis unter die Gürtellinie reichenden Kommentare. Witzigerweise las ich diesen Leserbrief an einem Sonntag in unserem Hof. Mara spielte mit ihren Freundinnen im Sandkasten; ihr kleiner Bruder testete sein Bobbycar unter Ausnutzung der hölzernen Rampe der Behindertenwohnung, im Vorderhaus wurde ein Geburtstag gefeiert. Der Klang der Sektgläser mischte sich mit dem Gezwitscher der Vögel, dem Quietschen der Schaukel, den Fingerübungen eines Akkordeonisten: »Leise klingt durch mein Gemüt liebliches Geläute«.

Wer geglaubt hatte, dass jeder Anwohner dies als einen wunderschönen Sonntag empfunden hätte, wurde am folgenden Montag eines besseren belehrt. In jedem Briefkasten lag der schriftliche Aufschrei einer gequälten Seele. Ein Nachbar äußerte seinen Unmut über Partylärm und Bobbycars. Trotz geschlossener Fenster sei seine Sonntagsruhe gestört gewesen. Ein Auszug der Berliner Lärmverordnung war beigefügt. Seitdem ist der Hof sonntags leer. Die Nachbarn sind geflüchtet auf ihre Datschen und Campingplätze. Schade.

Liebe Brieffreundin, um noch einmal von Ihrer geliebten, »gewachsenen Stadtlandschaft« zu sprechen; von Ihrem geliebten Kreuzberg, Wohnen und Arbeiten in einem Kiez: Ist so ein Leben nicht voller Bobbycars, Ziehharmonikas und Sektgläser? -»Leiser Bergmannkiez«!- das ist so schlüssig wie »Dunkel war‘s, der Mond schien helle....«

Alte Leute sind geräuschempfindlich. Aber müssen wir deshalb in einer Diktatur der Hochsensiblen leben? Nur noch Schach im Hof? Kein abendliches Schwätzchen mehr vor dem Weinladen oder der Friseurin? Mein Vorschlag: Die Bebauung des Tempelhofer Feldes - nein, warten Sie, bevor Sie »Verrat« schreien - nicht über- sondern unterirdisch. Da kann man unter einer Fläche größer als Monaco Wohnungen bauen. Dort sind dann die »Hochsensiblen« weder Sonne, Wind, Regen, Geräuschen, Gerüchen und anderen Umweltbeeinträchtigungen ausgesetzt, und haben es dennoch nicht weit bis zum Heidelberger Krug. Und wir anderen sitzen sonntags in unseren Kreuzberger Hinterhöfen - und singen: »Sprich zum Vöglein, das da singt auf dem Blütenzweige; sprich zum Sektglas, das da klingt, dass mir keines schweige!«

Aber das wäre demokratischen Radfahrerinnen wie Ihnen natürlich zu diskriminierend. Sie werden wie üblich protestieren. Um des Protestierens willen. Denken Sie einmal über meinen obigen Vorschlag nach und lassen Sie uns das Kriegsbeil begraben - Ihr KaJo Frings




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