Kreuzberger Chronik
April 2013 - Ausgabe 146

Mein liebster Feind

18. Brief


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von Kajo Frings

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Meine werte Frau Neumann, nur der Klarheit wegen zuerst dies: Sollten Sie meine aus friedvoller Weihnachtsmelancholie entstandene Einladung zu einem niveauvollen Essen auch nur als Andeutung eines Heiratsantrages verstanden haben, so entschuldige ich mich ausdrücklich für dieses Missverständnis. Sie haben natürlich Recht, dass es keinen Sinn ergibt, den »guten alten Zeiten« hinterherzutrauern. Einer der letzten großen Kreuzberger Trinker outete sich kürzlich im »Stern« als »trocken« und auf meinem iPod läuft auch nicht mehr Degenhardts »Reiht Euch ein in die neue Front«, sondern »Ich möchte Weintrinker sein«.

Ich hab‘s ehrlich auch eher mit den »-ikern« als mit den »-pathen«. Ein Romantiker, Melancholiker oder Alkoholiker ist mir allemal lieber als eine(r) dieser »Homöo-«, »Psycho-« oder »Soziopathen«. Wobei ich schon wieder bei Leuten wie Ihnen, den bachblütenberauschten bekennenden Bürgersteigradlern wäre. Kay Nehm, der Präsident des Deutschen Verkehrsgerichtstages, war mal Richter am 4. Senat des BGH, zuständig für Revisionen in Verkehrssachen. Er gab kürzlich zu, dass er damals als Fahrradfahrer so einige Verkehrsregeln missachtet und, wenn seine Frau ihn ob der Illegalität seines Handelns rügte, geantwortet habe: »Dann ändere ich eben meine Rechtsprechung«. Sie, meine liebe Frau Neumann, fahren doch auch ständig auf dem Gehsteig und überfahren rote Ampeln und Zebrastreifen. Sie nehmen sich doch auch dieses Recht heraus, jede allgemeingültige Verkehrsregel zu missachten, mit dem Argument, dass Sie ja keinen Fußgänger hindern, Ihnen auszuweichen. Sie sind also auch nicht anders als diese ignoranten Autofahrer, die sich damit rausreden, dass sie sich ja auch nur dann auf Behindertenparkplätze stellen, wenn dort gerade kein Behinderter parkt....

Und wo ich schon dabei bin: Sie gehören ganz bestimmt auch zu denen, die immer rufen, meine Friesenstraße muss verkehrsberuhigt werden, egal, welche Konsequenzen das für andere Stadtteile hat. Und auch Sie kämpfen nicht gegen die Ursachen von Wohnungsspekulation und anderen kapitalistischen Zwangsläufigkeiten; Ihnen reicht ein »Spekulanten raus aus Kreuzberg!«. Anlässlich der Demonstration an der East-Side-Gallery schreibt ein »Kultkolumnist« aus dem Graefekiez im Tagesspiegel: »Nichts gegen Häuser und Brücken, aber hey, wenn es irgendwas in Berlin reichlich gibt, dann wohl Platz für Neubauten«. Na, wenn das kein Aufruf zum Häuserbau auf dem Tempelhofer Feld ist?! Ja, jeder will für sich und seinen Kiez das Beste.

Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andre an. Ach was soll‘s: Ich nehm mir eine schwäbische Lebensweisheit zu Herzen: »Bevor ich mich aufreg, ist es mir lieber egal.« Also lauf ich tagtäglich durch den Bergmannkiez, lauthals mein Mantra murmelnd: »Hier ist kein Fahrradweg«. Ihr Kajo Frings


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