Kreuzberger Chronik
September 2012 - Ausgabe 140

Geschichten & Geschichte

Trümmerbahnen in Kreuzberg


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von Werner von Westhafen

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Vor der Stadt türmte sich der Kriegsschrott zum Teufelsberg auf. Auch in Kreuzberg entstanden kleine Hügel.


Berlin lag in Trümmern. Eine große Stadt war zerstört. 800.000 zerbombte Häuser. Und in den Ruinen wohnten noch Menschen. Doch die alten Lebensadern der Stadt, in denen vor dem Krieg das Leben pulsierte wie kaum sonst in

Europa, waren verstopft. Wenn Berlin noch einmal zum Leben erweckt werden konnte, dann mussten zuerst die Straßen vom Schutt befreit werden. Doch niemand wusste, wohin mit über 50 Millionen Kubikmetern Schrott.

Die Tägliche Rundschau vom 24. 4. 1947 empfahl den Bewohnern der Trümmerstadt, den Schutt »in die sowieso ungeliebten Hinterhöfe« zu kippen. Anschließend könnte man die Höfe »einfach zuwachsen lassen.« Andere kamen auf die Idee, mit den Trümmermassen Grünanlagen wie dem Tiergarten »abwechslungsreiche Hügellandschaften« entstehen zu lassen, »für die auch schon ein passender Name gefunden worden war: Die Berliner Alpen«. Tatsächlich türmten sich am Stadtrand Berge auf, die Berlins höchste Erhebung, den Kreuzberg, bald überragten. Auch einige Parkanlagen im Stadtinneren wurden mit Bergen ausgestattet, die Anhöhen am Humboldthain und am Friedrichshain sind künstliche Erhebungen aus Kriegsschutt, 22 Jahre lang fuhren täglich bis zu 800 Lkw Trümmer in den Grunewald, wo der Teufelsberg entstand.

Auch Kreuzberg war getroffen. Von der zerstörten Markthalle am Marheinekeplatz, wo sich ein Sammellager für den Schutt der umliegenden Häuser befand, wurden die Trümmer in die Hasenheide transportiert. Zunächst füllte man die große Kiesgrube in der Nähe der Neuen Welt mit Flugzeugteilen und den Resten der Zwangsarbeiter-Baracken vom Flughafengelände, dann begann man mit der Aufschüttung zweier Hügel. Wenige Jahre später waren die Schuttberge zu den 68 und 55 Meter hohen Kuppen der Rixdorfer Höhen geworden.

Trümmerbahnstrecken in der Nähe der Bergmannstraße
Fuhrwerke und Lastkraftwagen aber reichten schon bald nicht mehr aus, um des Schuttes Herr zu werden. Deshalb verlegte man Geleise zwischen den Trümmern, auf denen Tag und Nacht kleine Lokomotiven Züge schwer beladene Loren durch die Ruinen zogen. Eine dieser Strecken kam aus dem Norden Kreuzbergs und führte von der Stallschreiberstraße über den Wassertorplatz zum Urbanhafen, wo der Schutt auf Schiffe verladen wurde. Eine andere Strecke verlief vom Kottbusser Tor bis zum Südstern. Auch über die Gneisenau-, die Hagelberger und die Bergmannstraße holperten, wenn sich die letzten Zeitzeugen nicht irren, damals die Trümmerbahnen.

Auf dem stabilen Fundament der Marheinekehalle wurde ein regelrechter Lokbahnhof angelegt, von wo aus die Züge zur Hasenheide rollten. Beladen wurden die Loren meistens von Frauen. Man hatte, in Ermangelung männlicher Arbeitskräfte, am 14. Juli 1946 mit dem Gesetz Nr. 32 den Einsatz von Frauen auch bei körperlich schweren Arbeiten ausdrücklich genehmigt. Belohnt wurden die Trümmerfrauen mit Lebensmittelmarken. Wer nicht arbeitete, ging leer aus. Dennoch mussten einige Frauen zu dieser schweren Arbeit regelrecht auf die Straße getrieben werden. »Das war Knochenarbeit, und man hat ja nischt im Magen gehabt.«

Ein weiterer Verkehrsknotenpunkt der Schutttransporte befand sich nicht weit entfernt vom Anhalter Bahnhof am Schöneberger Hafen, an dem zuvor Baustoffe zum Aufbau der Stadt umgeschlagen wurden. Nun transportierten die Kanalkähne Schutt und Asche. Auch Dyckerhoff und Widmann, die bislang mit dem Aufbau ihr Geld verdienten, lebten jetzt vom Abriss. Sie errichteten im Hafen eine Trümmeraufbereitungsanlage, die den Schutt zu Split malte. Was sich nicht zerkleinern ließ, wurde in das alte Hafenbecken am Landwehrkanal geschüttet. 15 Jahre dauert es, bis das Becken wieder gefüllt war. Wiederum fünfzig Jahre später entstand auf dem wieder gewonnenen Neuland der Mendelssohn – Bartholdy – Park. Nichts erinnert heute noch daran, dass hier einst ein Hafen war, und welche Mühe es kostete, all diese Trümmer zu beseitigen.

Die einzigen, die an dem Leben in den Ruinen manchmal noch etwas Spaß hatten, waren die Kinder, die auf die kleinen Trümmerbahnen aufsprangen und in den Schuttloren ein Stückchen mitreisten. Die vielen Frauen aber haben noch Jahre später ihr Leid geklagt, und tatsächlich haben viele Berliner die ersten Nachkriegsmonate nicht überlebt. Mit letzter Kraft wurden innerhalb eines einzigen Jahres 53.000 Wohnungen wieder hergestellt, die ganze Welt blickte auf die Berliner Trümmerfrauen, die sich mit bloßen Händen daran machten, diese Stadt wieder aufzubauen, und die auf den »kümmerlichen, elenden, zertrümmerten, alten, ruinierten Bahnhöfen neue Gleise aufmontieren«, wie Ernst Reuter es im August 1948 formulierte. Niemanden sonst als diese Frauen meinte er, als er jenen berühmt gewordenen Satz sprach: Völker der Welt.... schaut auf diese Stadt! •


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