Kreuzberger Chronik
Oktober 2012 - Ausgabe 141

Kreuzberger
Sophie Raphaeline

Seitdem bin ich Berliner


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von Hans W. Korfmann

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Sie weiß noch genau, an welchem Tag sie zur Berlinerin wurde. Es ist noch nicht lange her. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und überlegt, ob sie diese Geschichte jetzt schon erzählen soll. Auf ihrem geheimnisvoll lächelnden Gesicht liegt der bläuliche Schein des Bildschirms, der zwischen Stapeln mit Büchern, Flaschen Weingläsern und mehr oder weniger großen Notizzetteln in das Halbdunkel des Zimmers strahlt.

Die Frau am Schreibtisch ist die Besitzerin eines kleinen Ladens, der sich nicht einreiht in die Kette durchgestylter Geschäfte in Nachbarschaft. „Book Shop, Library, Club“ steht über der roten Ladentür zwischen den schwarz-weiß karierten Kacheln an der Hauswand, mit denen das einstige Taxiunternehmen aus der Riemannstraße das schnelle Erreichen der Zielflagge suggerieren wollte. Dass hier alles anders ist, verrät schon der geheimnisvolle Name des kleinen Ladens: Another Country.

Auch die Frau hinter dem Schreibtisch trägt einen geheimnisvollen Namen: Sophia Raphaeline. Der Name könnte aus einem Märchen, einem Roman stammen, einem jener vielen Bücher, einem der schon vergilbten Paperbacks, der in Leder gebundenen antiquarischen Ausgaben alter Klassiker oder einem dieser alten Science-Fiction Heftchen mit den Eselsohren, die sich in der zwei Zimmer umfassenden Bücherwelt bis unter die himmelblaue Stuckdecke stapeln, und die alle eines verbindet: Sie sind in alle in englischer Sprache verfasst.

Im „anderen Land“ weht den Besuchern der Odem einer fremden Welt entgegen. Einer Welt aus alten Teppichen, verstaubten Sesseln und dunklen Tischen, aus muffig riechenden, abgegriffenen Büchern und zwei hölzernen Karyatiden, die keine Simse und Balkone, sondern kleine Bücherstapel tragen. Im „anderen Land“ haben sich die Überbleibsel eines vergangenen Jahrhunderts versammelt, Reminiszenzen an die wilden Sechzigerjahre, in denen Sophia noch in London lebte und mit der Schere Artikel aus Zeitungen und Magazinen ausschnitt. Ihre prominenten Kunden aus dem Ober- oder dem Unterhaus hatten es satt, täglich die gesamte Presse zu durchstöbern, nur um zu erfahren, dass die Zeitungen alle das gleiche berichteten. Also sortierte sie all jene Artikel aus, in denen der Name Margaret Thatcher auftauchte, und klebte sie zur exlusiven Privatausgabe zusammen. Die Premierministerin war eine der prominentesten Kundinnen von Sophie.

Schon damals bestand die andere Welt der Sophie aus den Buchstaben. Am Abend kaufte sie die Spätausgaben der Tageszeitungen und verbrachte die Nacht lesend unter der Schreibtischlampe, damit die Kundschaft morgens Sophies Pressespiegel zum Tee auf dem Tisch hatte. Es spielt nicht nur ein geheimnisvolles, sondern auch ein wissendes Lächeln um Sophies Mundwinkel, wenn sie sagt: „Ich gehörte damals zu den am besten informierten Leuten in London.“

Dass Sophie Raphaeline in die Welt der Buchstaben eintauchte, war kein Zufall. Ihre Mutter war Lehrerin und wollte an die Universität, nur der Ausbruch des Krieges verhinderte ihren Aufstieg. Nun sollte das Kind den Traum der Mutter verwirklichen, und schon im Alter von zehn las Sophie Shakespeare. Doch auf der Universität wurde ihr das verstaubte Englisch zum Gräuel. Sophie war auf der Suche nach der Wahrheit und wandte sich der Psychologie und Philosophie zu und wohnte in der King´s Road, dem Schlupfwinkel der Hippies. Natürlich ließ Sophie ihr Haar so lang wachsen wie Joan Baez. Noch heute trägt sie es so lang, und noch heute trägt sie bunte, weite Röcke und kleine Kettchen am Handgelenk. Noch heute treten Leute in den Laden mit dem modrigen, alten Geruch und dem wilden Durcheinander aus Büchern, Aschenbechern, Kerzenständern und einem ausgestopften Bussard und sagen: „Wow – das ist ja noch echt Kreuzberg.“

Kreuzberg ist kein Zufall gewesen. Es war klar, dass sie einmal von London nach Berlin, von der King´s Road in die Bergmannstraße ziehen würde. Ebenso konsequent ist die Tatsache, dass sich in ihrem
Foto: Dieter Peters
Leben und Laden bereits 20.000 Bücher angesammelt haben, und dass sie eines fernen Tages vielleicht tatsächlich „täglich zwei Zeitungen und zwei Bücher gelesen“ haben wird. Es passt zu der traditionsbewussten Engländerin, dass sie noch heute jeden Freitag fünfzehn oder zwanzig Freunde in ihrem geheimnisvollen Etablissement empfängt, die dann bis Mitternacht oder bis „vier oder fünf Uhr morgens“ philosophieren und diskutieren und dabei etwa mit Aprikosen gefüllte Lammschultern verspeisen.

„Das ist gar kein Buchladen hier“, sagt Sophie, „Das ist eher so ein Treffpunkt, ein Club. Die Leute kommen rein und bringen mir ihren ausgedienten Drucker oder ihren alten Teppich, und der nächste kommt und nimmt ihn wieder mit. Wenn sie irgendein Möbel auf der Straße finden und es zu weit ist nach Hause, dann lassen sie es erst mal hier. Eigentlich verkaufe ich die Bücher ja auch gar nicht richtig. Die Leute können sie jederzeit wieder zurückbringen, und sie bekommen dann auch das Geld zurück. Minus 1,50. Also, eigentlich ist das eher eine Bücherei als ein Buchladen.“

Dennoch stieß die passionierte Zeitungsleserin eines Morgens beim Durchscrollen der Los Angeles Times auf den Namen ihres Buchladens. Der Reiseführer Lonely Planet hatte „Another Country aus der Riemannstraße Nr. 7 in Berlin Kreuzberg“ unter die zehn besten Buchläden der Welt gewählt. Und sie neben so kuriose Kollegen platziert wie City Lights Books aus San Francisco, Librería El Ateneo Grand Splendid aus Buenos Aires oder Bookworm aus Bejing. Manchmal blitzt im leisen, weisen Lächeln von Sophie Raphaeline etwas Schelmisches auf. Und manchmal bricht es einfach nur laut aus ihr heraus: Das Lachen.

Auch an diesem Morgen im Mai des Jahres 2010 musste sie zuerst lachen. Aber dann wurde es ernst. Es war ein Morgen wie jeder andere in den vergangenen zwölf Jahren. Und dann ging auf der anderen Straßenseite dieser Mann vorüber, tief in seine Gedanken versunken. Sie kann nicht mehr genau sagen, was dieser Anblick in ihr auslöste. Sie weiß nur, dass von da an alles anders wurde. Dass sie die Farben viel intensiver wahrnahm, dass der Laden, die Wohnung, die Straße, die Stadt, der Braten, dass alles plötzlich ganz anders roch und anders schmeckte. Es war, als hätte sie zu viel von diesem Meskalin erwischt, das in der King´s Road kursierte. Aber der Zustand hielt an, Monate lang. Sie ließ sich untersuchen, aber die Leber, die schon ein Schwamm gewesen zu sein schien, hatte sich wieder erholt. Alles war ganz wunderbar. Das einzig Auffällige waren die vielen Östrogene, die in ihrem Blut auftauchten. Und die langsam Besitz ergriffen von ihrem Körper. Die allmählich Brüste wachsen ließen und ihr Lächeln veränderten.

Am ersten Tag des neuen Jahres schlüpfte sie in das rote Kleid, das ihr eine Freundin geschenkt hatte, und das sie bis zu diesem Tag nur im verschwiegenen Reich der eigenen vier Wände getragen hatte. Nun lief sie über die Bermannstraße. Eine alte Frau blieb stehen und nahm die Brille ab, um besser sehen zu können. Männer blickten scheu zur Seite. Aber Sophie Raphaeline war jetzt Sophie Raphaeline. Die Namen, die sie früher getragen hatte, galten nicht mehr. Sie war jetzt tatsächlich in einem ganz anderen Land. Und es gab kein Zurück mehr.

„Es gibt zwei Sorten Transsexueller“, sagt Sophie: „Die erste Sorte sind diejenigen, die schon als Kind merken, dass etwas nicht stimmt, und sich schnell verändern. Die zweite Sorte sind die, die das andere Geschlecht unterdrücken und dann mit vierzig, wenn die Kinder aus dem Haus sind, plötzlich anders werden. „Und dann...“,sagt Sophie und lächelt schelmisch und geheimnisvoll und weise zugleich, „gibt es noch mich.“

Denn bei ihr kam alles ganz anders. Bei ihr kamen plötzlich die Östrogene. „Ich hab im Leben nie daran gedacht, mich einmal wie eine Frau anzuziehen.“ Auch nicht in Kreuzberg, wo Lesben, Schwule und Transvestiten lebten, und wo sie immer wieder Frauen begegnete, die eigentlich keine Frauen waren.

Foto: Dieter Peters
„Ich habe mich nie als Frau gefühlt. Ich habe mich auch nicht als Kreuzberger oder als Kreuzbergerin gefühlt.“ Auch das passierte ihr einfach eines Tages. Sie weiß noch genau, wie das war: Vor ihrer Tür ihres anderen Landes war ein Streit ausgebrochen. Ein Hund hob sein Bein just über Sophies kleinem Blumenbeet auf der Baumscheibe . Eine Nachbarin fand das unappetitlich, aber der Besitzer des Vierbeiners sagte „Mein Hund kann pissen, wo er will“. Da öffnete Sophie die Tür, lächelte weise und sagte: „Wenn Ihr Köter auf meine Blumen pissen darf, dann darf ich auch auf ihren Köter pissen“. Und dann stellte sie sich breitbeinig vor den verdutzten Hund und griff mit eindeutiger Handbewegung dorthin, wo sich im Allgemeinen der Hauptsitz der Männlichkeit befindet.

Und dann bricht das Lachen wieder ganz einfach aus ihr heraus. Wenn sie daran denkt, wie der Berliner den Hund vom Blumenbeet zog und voller Panik die Flucht ergriff. „Seitdem bin ich ein Berliner.“ •


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