Kreuzberger Chronik
März 2012 - Ausgabe 135

Literatur

Der schwule Horst


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von Klaus Bittermann

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Die Sonne scheint, es ist warm, und sofort zieht mich eine magische Kraft ins Freie, ins Café, hinaus ins mondäne Leben, das den Geschmack von Latte macchiato hat und zu dem so etwas Antikes gehört wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Aber auch wenn es hier im Kiez vor den Cafés Liegestühle gibt, wird es nicht richtig mondän. Man könnte genauso gut in einer Einkaufsmeile liegen, denn es joggt und radelt viel Publikum an einem vorbei. Aber die wenigen Liegestühle sind sowieso meistens besetzt, und auch wenn die Leute so tun, als sei es mondän, es sieht irgendwie unbequem aus.

Ich sitze auf einem wackligen Holzstuhl des Souterrain-Cafés »Manouche«, das sein Mobiliar aus dem Sperrmüll zusammengesammelt und aus groben Holzbrettern zusammengezimmert hat. Es strahlt den liebenswürdigen und bekifften Charme eines Jugendzentrums aus. Hier sind Amateure aus Frankreich am Werk, die sich für alles sehr lange Zeit lassen, viel länger als in einem normalen Café, sogar für ein Getränk, bei dem man nur den Kronkorken zu entfernen braucht. Savoir vivre eben.

Zwei Häuser weiter guckt Otto aus dem Fenster seiner Hochparterre-Wohnung. Er guckt da meistens raus. Dafür hat er sich schon ein Kissen aufs Fensterbrett gelegt, um seine Ellbogen weicher zu betten, die eine ziemliche Masse abstützen müssen. Der Mann ist ein Relikt aus dem alten Viertel, als es in der Straße noch kein Café gab, sondern nur einen Sanitärladen. Otto ist ein Gentrifizierungsgewinner, denn er hat heute viel mehr zu gucken als früher. Manchmal sieht man ihn auch draußen herumlaufen. Er hinkt und er schnauft. Manchmal quatscht er Nachbarn an, wie den schwulen Horst, der vor seinem Laden für alles sitzt.

Otto schwenkt zwei Deutschlandfähnchen. »Was machst du denn da?«, fragt Horst mit Betonung auf dem Du, denn Horst gilt die Fähnchenschwenkerei. »Na, ick feire Jeburtstach, wa!« »Was denn? Du hast Geburtstag?« »Nö, icke doch nicht. Der Führer.«

Tatsächlich, heute ist der 20. April. »Och, hör doch auf mit dem Scheiß«, sagt Horst. Tut Otto aber nicht. Wahrscheinlich ist er gar kein Nazi, sondern nur jemand, der das für einen guten Witz hält. Aber der kommt bei Horst nicht an: »Wenn du unbedingt was Braunes brauchst, kann ich dir auf deine Fahnen auch drauf scheißen«, sagt Horst.

Dabei ist es tatsächlich ein guter Witz, mit Deutschlandfähnchen Hitlers Geburtstag zu begehen, denn davon wären weder die Deutschländer noch Herr Hitler begeistert, und dann noch von einem Behinderten, der wahrscheinlich als unwertes Leben abgeschafft worden wäre. Doch doch, je länger ich darüber nachdenke, gar nicht schlecht, der Witz. Aber darüber lachen kann ich auch nicht. Dafür hab ich zu lange drüber nachgedacht. •

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