Kreuzberger Chronik
Juli 2012 - Ausgabe 139

Essen, Trinken, Rauchen

Sas in der Weltküche


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von Saskia Vogel

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Sas ist in »Die Weltküche« gegangen. Sie hat das Fernweh gepackt. Salsa-Klänge beschallen die Draußensitzer, fehlt nur noch der Sand – auf dem Boden der Graefestraße. Zumindest aber vorhanden: ein Urwald, in Form eines Blumenladens, gleich nebenan. Mit üppigen Außenrabatten und zwitscherndem Getier. In der Weltküche könnte Sas »gemeinsam mit Freunden« vom Buffet essen, dessen Schüsseln der Kellner gerade zur Ansicht lüftet – Bulgur, Huhn, Gemüsereis. Das Essen duftet nach Ingwer und Zitrone, doch Sas hat an diesem luftigen Frühsommerabend keinen Hunger. Und auch keine Freunde. Die Weltküche ist multikulturell. Hat eine Auszeichnung bekommen, engagiert sich der Verein »Graefewirtschaft« doch für Migranten und Flüchtlinge.

Angestellt im Restaurant, bereiten diese »mit viel Herzblut« traditionelle Gerichte aus ihren Herkunftsländern zu. Der Laden erinnert Sas an eine lateinamerikanische Backpacker-Bar an einem Lonely-Planet-Strand. »Hey, where do you come from?« – und richtig! Auf farbigen Stühlen lärmen Brasilianer, nuckeln Afrikaner an neongrünen Drinks. Keiner von ihnen jedoch fragt »Hey ...?« – Dabei hätte Sas gerne erzählt. Wo sie herkommt und vor allem, wohin sie gerne zurück möchte. Nach Brasilien, an die Costa Verde, nach Paratí. Glühwürmchen sehen. Salat mit Camarões essen. Ingwer und Zitrone riechen.

Am Nebentisch haben zwei junge Mütter Platz genommen. Die eine mit Kugelbauch. Die andere mit frischgeschlüpftem Küken im Kinderwagen – und da starren die beiden jetzt rein. »Schau mal der Mund, sieh mal den Schorf an seinem Köpfchen.« Sie unterhalten sich über Molton- und Gummieinlagen und blicken in die Wagentasche, als wäre sie das Fenster zur Welt. Heute, erzählt die Kükenmutter, sei sie »am Urbanhafen Gassi gefahren«. Die Hasenheide wäre auch ganz schön, sagt die mit dem Kugelbauch. Sas fragt sich, was diese Frauen früher einmal waren. Vielleicht sind auch diese beiden einmal viel gereist. Haben die Strecke Südafrika – Botswana klaglos mit dem Bus bewältigt. Sind in die Amazonasgebiete Brasiliens getrampt. Durch das steinige Griechenland gestolpert.

Jetzt sind sie Kugelbauch und Kükenmutter. Beschränkt auf einen Radius von drei Kilometern. Sehen keine Wasserfälle und Kolonialbauten, sondern Schorf am Köpfchen und Schnuller im Mund. Statt in Buenos Aires Tango zu tanzen, geht die Fernreise gerade einmal in die Weltküche in der Nachbarschaft. Und dort noch nicht einmal auf die »Music Night Events« – sondern am späten Nachmittag zum Stillen nach Hause. Hmm, denkt Sas, und schaut auf ihren kleinen Kugelbauch. Sie wird es anders machen. Sas wird die Freiheit nicht so schnell wieder aufgeben.

Sie zahlt und schaut sich nach einem Reisebüro um. »Ein Flugticket nach Rio de Janeiro, sofort!« Auch sie muss etwas stillen: Ihr Ingwer- und Zitronen-Fernweh. •


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