Kreuzberger Chronik
Dez. 2012/ 2013 - Ausgabe 143

Mein liebster Feind

Fünfzehnter Brief


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von Katja Neumann

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Lieber Herr Frings: Vielen Dank für das Eingeständnis Ihrer heimlichen Liebe zu Kreuzberg. Ich weiß das, nach all den bösen Briefen, in denen Sie an meiner Heimat gar nichts Gutes mehr lassen konnten, sehr zu schätzen.

Allerdings stellt sich mir die Frage, warum Sie gerade dieses alte, ummauerte Westberlin so liebevoll heraufbeschwören. Diesen heruntergekommenen Stadtteil Kreuzberg mit seinen leeren, kalten Wohnungen und der Außentoilette. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie, als wir uns über den regen Immobilienhandel und den Zuzug immer durchschnittlicherer Durchschnittsbürger in unser undurchschnittliches Kreuzberg austauschten, einmal geschrieben: »Sie wollen doch nicht allen Ernstes wieder das Klo auf dem Gang und den Kohlestaub in der Wohnung?« In Ihrem letzten Brief aber hören Sie sich an, als trauerten Sie genau dieser Idylle nach. Das ist ein bemerkenswerter Widerspruch. Aber ich möchte diesmal nicht zu streng mit Ihnen ins Gericht gehen – schließlich haben Sie mir mit Ihrer kleinen Liebeserklärung endlich einmal aus dem Herzen gesprochen.

Natürlich bin ich versucht, nun auch meine ersten Eindrücke von Kreuzberg zu schildern. Aber wir wollen hier keine Tagebücher veröffentlichen und aus unseren Nähkästchen plaudern. Wir wollen uns doch angiften! Aber so viel möchte ich sagen: Ich kam nicht ohne Widerwillen in dieses Viertel. Es war mir zu szenig. Ich kam aus dem bodenständigen Wedding, wo die Leute noch in Pantoffeln und Pyjama Zigaretten holen gingen, wo ich für 75 helle Quadratmeter 310 DM Miete zahlte. Wo sich im Wassermann, im Skorpion oder im Zwilling die Leute noch die Köpfe einschlugen, wo das Bier 1.80 kostete, und wo ich mein Fahrrad nie abzuschließen brauchte, weil dort niemand so ein altes Rad klaute. Ich war genau zwei Wochen in Kreuzberg, da war ich mein Rad los.

Die ganzen Künstler und Lebenskünstler in den Kreuzberger Kneipen behagten mir ebenso wenig wie die politisch in eine Richtung gebürsteten Ex-Kommunarden und Ex-Hausbesetzer, all diese grauhaarigen Eminenzen der Kreuzberger Solidarität. Diese Räucherstäbchenverkäufer, Biokäsehändler, Balkonhaschischbauern, Intellektuellen und Möchtegernintellektuellen, die allesamt ihrem Bezirk mit seinen langen Nächten huldigten, die waren mir samt und sonders zu eitel und zu selbstverliebt, und viel zu freundlich zueinander.

Aber es kam der Tag, an dem ich spürte, dass etwas dran ist an diesem solidarischen Lebensgefühl. Es war ein Tag, an dem ich krank war und hohes Fieber hatte. Eine Nachbarin sah mich im Treppenhaus und sagte, ich solle mich mal ins Bett legen. Sie holte Obst und Tabletten für mich und kochte mir Tee. Am Abend kam ein Freund von ihr, um mir ein Buch zu leihen, und am nächsten Morgen hatte ich eine Tüte mit frischen Brötchen an der Tür hängen. Das, dachte ich mir dann, wäre im Wedding nicht passiert. Ihre Katja Neumann


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