Kreuzberger Chronik
September 2010 - Ausgabe 120

Geschäfte

Originale Imitate


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von Saskia Vogel

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In einem Kreuzberger Hinterhof entstehen Galionsfiguren, Elefanten, Kröten und menschliche Gliedmaße.



Leicht ist es nicht, den Dachboden zu finden, auf dem Imitat seinen Firmensitz hat. Im unübersichtlichen Hinterhof der alten Dragoner-Kaserne am Mehringdamm, zwischen Autowerkstätten, zwischen Öl und Männergeschrei versteckt sich eine Tischlerei. Der Besucher steigt eine wackelige Holzstiege hinauf, ertastet hinter Staubwolken eine schmale Tür, dahinter eröffnet sich dann endlich Beate Kelms Werkstatt. Der Holzfußboden ungeschliffen, der Sägelärm von draußen laut. In den Regalen: Bärenschädel, Gipsformen und Kanister mit flüssigem Latex.

Beate Kelm macht Theaterplastiken. Bühnenbildner entwerfen die Gesamtkonzeption von Theaterbühnen oder Filmsets, die Requisiteure bestimmen die Ausstattung -und die Theaterplastiker sorgen für die praktische Umsetzung der »Kopfentwürfe«. Das ist nicht selten eine Herausforderung. »Bei fast jedem Auftrag muss ich mich fragen: Wie setze ich das um?« Eine Filmproduktion bestellte zum Beispiel eine spuckende Giftkröte. Beate Kelm fertigte eine Gipsschale an, goss flüssiges Latex hinein und ließ es aushärten. Anschließend lackierte sie die Kröte und installierte einen Spritzmechanismus mit Gummischlauch, aus Farbstoffen wurde die Spucke gerührt. Dass sie zur Herstellung der Requisiten mit teils giftigen Chemikalien hantiert, sei einer der wenigen negativen Aspekte ihrer Arbeit. Ansonsten merkt man ihr schnell an: Ihr Beruf begeistert sie. Als Innovationskünstlerin sieht sie sich nicht: »Es ist nicht mein Anspruch, Ideen in die weite Welt hinauszutragen«. Vielmehr geht es darum, die Ideen in das Werkstück hinein zu transportieren. Womöglich bis ins kleinste Detail. Zwei Wochen lang saß sie in ihrer Werkstatt mit den niedrigen Dachschrägen und lackierte wie am Fließband 50 unechte Austern. Für einen Filmhund musste sie ein originalgetreues Double anfertigen, das ra
Foto: Dieter Peters
sante Bremsszenen schadlos auf dem Rücksitz eines Cabrios überstand. Ein anderes Mal fabrizierte sie essbare Heuschrecken. Die Künstlerin erstellte eine filigrane Silikonform der Insekten - und goss statt Latex Karamell hinein.

Nächstes Jahr wird Beate Kelm ihr »fünfundzwanzigjähriges Jubiläum« feiern können. Vor 18 Jahren hat sie begonnen, ihre Ausbildung absolvierte sie in den Achtzigerjahren im Schiller-Theater. »Heute leistet sich in Berlin nur noch die Deutsche Oper das Privileg einer eigenen Werkstatt«. Auch die Schiller-Werkstatt ist »längst abgewickelt«, die Requisiteure der Filmproduktionen lassen ihre Plastiken extern anfertigen. Die Frau in der alten Reiterkaserne aber wird immer wieder beauftragt, »die Zeit des Klinkenputzens ist vorbei.« Sie arbeitet für große Kinoproduktionen, manchmal wird ihr Name im Abspann genannt. Im »Baader-Meinhof Komplex« waren es Pflastersteine aus der Obentrautstraße, die bei Demonstrationen durch das Szenenbild fliegen. Weil sie aus Gummi sind, machen sie einen kleinen Hüpfer, wenn man sie auf den Boden wirft.

Beate Kelm kann von ihrer Kunst leben, weil sie Kunstprodukte herstellt, für die es zahlungskräftige Abnehmer gibt. Doch auch für kleine Theater-Produktionen bastelt sie hin und wieder das eine oder andere Requisit, ohne viel daran zu verdienen. »Sicher, die Branche hat sich verändert«, 1979 wurde Ridley Scotts »Alien« im gleichnamigen Film noch komplett von Theaterplastikern gestaltet, heute werden Außerirdische am Computer animiert. Und doch: Ganz ohne Requisiten kommen insbesondere Krimiproduktionen nicht aus. Beate Kelm legt einen wabbeligen Leichenfuß auf ihren Holzschreibtisch, gleich neben eine Schale glänzender Sommer-Früchte. »Den habe ich für eine Anatomieausstellung gefertigt.« Sind die Birnen und Äpfel denn wenigstens echt? Nein, auch die sind aus Gummi, »damit es keine Schweinerei gibt, wenn sich die Schauspieler das Obst gegenseitig an den Kopf werfen«. Und keine Beulen. Die Herstellung von butterweichen Schlagwaffen, das wäre ein Dauerbrenner, eine ihrer »Linien«, wie die Künstlerin gerne betont. Im hinteren Regal der Werkstatt lagern Keulen in verschiedenen Variationen. Daneben ein Latex-Umschnallbauch für Schwangere und eine Lenin-Büste. Der Anspruch der Künstlerin ist hoch: »Das Imitat soll originaler aussehen als das Original.« Am liebsten würde sie an jedes Requisit einen kleinen Anhänger dranheften: »Original Imitat«.

Authentisch sah bereits der Elefant aus Styropor mit faltiger Gummihaut aus, den Beate Kelm als Abschlussarbeit am Schiller-Theater einreichte. Seither dekorierte er manch ein Kreuzberger Schaufenster, verschwand in der Versenkung und wurde per Suchaktion wiedergefunden. Inzwischen ist er eine kleine Berühmtheit, obwohl – oder auch weil - er nur 1,30 Meter misst. Schon wenig später lief die Künstlerin zur Höchstform auf und fabrizierte einen zehn Meter langen Wal für einen Wanderzirkus. Weil die Stiege zu ihrem Dachboden einfach zu schmal und wackelig war, musste sie kurzfristig in eine andere Werkstatt umziehen, ebenerdig am Paul-Lincke-Ufer. Als der Meeressäuger fertig war, wurden die Fenster aus den Angeln gehoben. Nur so konnte der Wal in den Hof gehievt werden. •


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