Kreuzberger Chronik
April 2010 - Ausgabe 116

Reportagen, Gespräche, Interviews

Bildung mitten in Kreuzberg


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von Eckhard Siepmann

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Bildung mitten in Kreuzberg Der Ruf der Lenauschule hat gelitten. Doch hinter der bröckelnden Fassade des Westplattenbaus leisten engagierte Pädagogen ganze Arbeit.


Es ist ein kalter Märzabend mit einer schwachen Ahnung von Frühling in der Luft. In der Nachbarschaft von Mendelssohn-Bartholdy, Chamisso und E.T.A. Hoffmann sitzen am nördlichen Ende der Nostitzstraße fünfundzwanzig Menschen zwischen 25 und 75 Jahren in einem weißen Schulraum, der laut Beschilderung gleich für mehrere Zwecke gebaut wurde. Ein bärtiger Mann regt an, dem Raum und den Gegenständen in ihm mithilfe von Stöcken und Klöppeln Töne zu entlocken. Minuten später klingt, klopft, ziept, rasselt, knirscht und quietscht es. Matthias Schwabe vom Exploratorium Berlin dirigiert diese Kakophonie der verschiedenen Töne, bis eine zufällige Raummelodie mit einer überraschenden Schönheit entsteht. Die teilnehmenden Leute sind verwundert, dass sie, ohne geübt oder sich gekannt zu haben, aus dem Stand gemeinsam solche Klänge hervorbringen. Daraufhin entwickelt sich ein lebhaftes Gespräch über den wichtigen Stellenwert, der dem Improvisieren und Spielen in Lernprozessen zukommt.

In der Lenau-Grundschule, einem Zweckbau aus den fernen 70er Jahren, finden in unregelmäßigen Abständen die »Kreuzberger Bildungsforen« statt, in denen immer öfter improvisiert, aber auch viel über die Bildung in den Zeiten radikaler Schul-Spar-Reformen diskutiert wird. Die Gründerin dieses Forums ist Sibylle Recke. Sie ist seit siebzehn Jahren Lehrerin an der Lenauschule und könnte ein Klagelied über die Heuchelei der Schulpolitik anstimmen, die angeblich das Gute will, und so viel Böses schafft. Doch das wäre der engagierten Lehrerin zu einfach. »Wir wollten von Anfang an nicht nur den reaktiven Part übernehmen und in der Kritik an den schlechten Bedingungen verharren, sondern wir wollten darüber nachdenken, wie dem Lernen in einer beschleunigten Umwelt wieder mehr Zeit gegeben werden kann. Und welch positive Bedeutung das Fremde und die Differenz für das gemeinsame Aufwachsen von Kindern aus verschiedenen Kulturkreisen haben können.«
Dazu holte sich die Lehrerin Wissenschaftler mit ins Boot wie die Soziologin Ilse Schimpf-Herken vom Paulo Freire Institut der FU, die sich mit den Voraussetzungen für ein humanes Leben in einer globalisierten Welt beschäftigt. Sie brachte südamerikanische Pädagogen in die kleine Runde ein, die vom selbst bestimmten Lernen in den Favelas erzählten. Oder die Sozialisationsforscherin Astrid Albrecht-Heide von der TU, die ein standardisiertes Lernen als Folge von Pisa-, Vera- und sonstigen Studien kritisiert. »Eine zeitgemäße Schule muss die Kinder da abholen, wo sie stehen – bei ihren Erfahrungen und Perspektiven. Sie muss sich ihnen so komplex und differenziert widmen wie die Kinder in ihrer Vielfalt selbst auch sind. Wir tun den Kindern unrecht, wenn wir sie provinzialisieren und die gemischte Welt, in die sie hinein wachsen, negieren.«

Solche Stimmen werden auf den kleinen Bildungsgipfeln am Rande des Bergmannkiezes immer lauter. Sie treffen ins Herz verstörter Eltern, deren Kinder im Sommer eingeschult werden sollen, und die in einem sozial und kulturell durchmischten Stadtviertel nach der besten Schule für ihr Kind suchen. Sowohl bei Eltern »deutscher wie nichtdeutscher Herkunftssprache« herrscht die Angst, ihr Kind an eine Schule schicken zu müssen, die »einen schlechten Ruf hat«. Auch die Lenauschule, in der sich das Bildungsforum trifft, hat keinen guten Ruf mehr.
Die Lenauschule hat einen höheren Anteil von Kindern nichtdeutscher und sozial schwächerer Herkunft als die drei anderen Grundschulen im Viertel. Das war nicht immer so: Vor einigen Jahren galt gerade die Lenauschule als eine Vorzeigeschule des Quartiers, in die alle hinein wollten. Als eine der ersten Ganztagsschulen Berlins war sie ausreichend mit Räumlichkeiten ausgestattet, die bei vielen anderen Schulen fehlen, in denen nun improvisiert und notdürftig angebaut wird. Hinzu kam, dass die Lenauschule für ihre engagierten Lehrerinnen und Lehrer bekannt war, sowie für die vielen Projekte und die individuelle Förderung starker wie auch schwacher Schüler. Die an der Lenauschule entwickelte Lesekultur gilt als vorbildlich für Berliner Grundschulen, die Schulbibliothek und ihre Aktivitäten sind wegweisend und werden als Beispiel guter Bildungspraxis angehenden Pädagogen vorgeführt.
Doch das Image der Schule ist angekratzt. Es war die Schließung der staatlichen Rosegger-Schule im Jahr 2004, die der Lenauschule zum Verhängnis wurde, denn durch die Aufnahme der Rosegger-Kin
der geriet die Schülermischung in der Lenauschule aus der Balance. Innerhalb kürzester Zeit verfestigten sich Gerüchte zur allgemeinen Meinung. Karola Klawuhn, die Grundschulleiterin der Lenauschule, meint, dass »die Angst der Eltern« ausreichte, »um genau die Verhältnisse herzustellen, die sie befürchteten. In unserem Einzugsgebiet kommen mehr als die Hälfte der Kinder aus Familien deutscher Herkunft.« Es wäre also, rein rechnerisch, eine ausgewogene Verteilung deutschsprachig und fremdsprachig aufgewachsener Kinder an allen drei Schulen möglich. Deshalb wird die Lenauschule bis zum Juni in einer Reihe von öffentlichen Veranstaltungen auf die Vorzüge und besonderen Angebote der Schule hinweisen und Eltern sogar »die Möglichkeit anbieten, ihre Kinder gruppenweise in eine Klasse einschulen zu lassen.« Damit kommt sie einer Vorstellung entgegen, die vor allem von Pädagogen in den Kindertagesstätten oft propagiert, aber selten durchgesetzt wird. »Hier aber«, so die Direktorin, »haben sie die Gelegenheit dazu.«

In Berlin haben fast die Hälfte aller Kinder Vorfahren, die aus anderen Ländern stammen. In Friedrichshain sind es bereits mehr als die Hälfte. »Es wird gerne verdrängt, dass wir längst ein Einwanderungsland sind«, sagt eine Besucherin des Kreuzberger Bildungsforums. Die Politik muss darauf reagieren, damit die Idee vom guten Lernen unter heterogenen Bedingungen für alle zur Chance wird und nicht in der Kategorie Multi-Kulti-Kitsch landet.
Bertram Beer ist Elternvertreter der Lenauschule, wohnt in der Bergmannstraße und kann sich gut in die Sorgen der neuen Eltern hinein versetzen. »Uns ging es mit unserem Sohn vor zwei Jahren genau so. Wir sind durch die gleiche Hölle gegangen, als wir merkten, dass es für uns keine Alternative zur Lenauschule mehr gab, außer aus dem Kiez weg zu ziehen. Wir haben uns dann entschlossen, erst mal locker zu bleiben und uns die Schule einmal genauer anzusehen. Mittlerweile sind wir Lenauer geworden: Mein Sohn fühlt sich wohl hier. Das Klima ist freundlich, die türkischen Mitschüler sprechen gutes Deutsch und wir fühlen uns richtig gut aufgehoben in der Schule. Ich kann nur raten: Schaut erstmal genau hin!«
Sibylle Recke arbeitet sowohl an der Basis als auch in der dünnen Luft der Theoriefindung gegen eine Zweiklassengesellschaft im Schulsystem. Durch die Vernetzung mit der Universität der Künste, die an der Lenauschule einige Projekte durchführt, mit dem musikalischen Improvisationszentrum Exploratorium und mit der Stadtteilinitiative Dreigroschenverein versucht sie, das Kreuzberger Bildungsforum aus seinem Nischendasein am Ende der Nostitzstraße ins Bewusstsein Kreuzbergs zu rücken. Zusammen veranstalteten sie im Herbst in der Heilig-Kreuz-Kirche ein Forum zur Lesekultur an der Lenauschule und zeigten in dem viel gelobten Dokumentarfilm »Es war einmal ein Zebra«, wie das Erlernen des Lesens zum Vergnügen werden kann. Über hundert Menschen sahen, wie Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen mit viel Spaß zum Lesen und zum Buch finden, und wie diese Kinder das Gelesene miteinander in Buchvorstellungen, Theaterstückchen und Diskussionen verarbeiten. Eine lange Diskussion über das Lesen, neue Medien und die Bedeutung von Schulbibliotheken schloss sich an.

Jan Aleith vom Dreigroschenverein hat keine eigenen Kinder, doch sie unterstützt das Bildungsforum »aus Egoismus. Die zunehmende Entsolidarisierung gibt mir zu denken. Ich wohne gerne hier und möchte auch weiter in einem Kiez leben, in dem alle benachbarten Kinder gemeinsam statt in sozialer Trennung aufwachsen.« Die einheitliche, unentgeltliche Grundschule für alle sei übrigens eine demokratische Errungenschaft aus der Weimarer Republik, die das Entstehen von Parallelwelten damals wie heute verhindert hat. Das Kreuzberger Bildungsforum ist für sie ein Ort, an dem eine humane Pädagogik unter den aktuellen politischen Bedingungen durchdacht und besprochen wird.
»Das heutige Treffen zeigte ganz prima, wie wunderbar die verschiedensten Töne zu einem Gesamtklang zusammen finden, indem alle auf ihre ureigene Weise dazu beitragen«, resümiert Sibylle Recke nach dem Forum. Auch in ihrer Klasse sind Herkunft und Status der Kinder uninteressant. Alle ergänzen sich, und heraus kommt etwas Besonderes.
So funktioniert Integration. Kürzlich allerdings munkelte ein Schulleiter bei einem Treffen im Wasserturm, dass Integration im Chamissokiez doch kein echtes Thema mehr sei, da sich das Problem über die steigenden Mieten sowieso von selbst lösen würde. So zynisch diese Bemerkung war, so zutreffend ist sie. Der Verdrängungsprozess hat längst begonnen und wird schon bald nicht nur die Nachfahren jener betreffen, die einst als Einwanderer aus der Fremde hierher kamen.


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