Mai 2009 - Ausgabe 107
Reportagen, Gespräche, Interviews
Die Sänger vom Kreuzberg von Cord Riechelmann |
Sie singen in vierzehnstimmigen Chören und haben 200 Lieder im Repertoire. Und sie fliegen Tausende von Kilometern, nur um nach Kreuzberg zu kommen: Die Nachtigallen. SIE KAM immer pünktlich in den letzten Jahren. Sie kam immer um den 8. Mai herum. Nur im letzten Jahr kam sie etwas früher. Schon in der Nacht vom 2. auf den 3. war sie im Viktoriapark zu hören. Und »Sie« ist eigentlich ein »Er«, ein Nachtigallenhahn nämlich, der seit vier Jahren in den Bäumen an der Methfesselstraße seine Lieder in die Nacht hinaus singt. Ob es tatsächlich immer derselbe Hahn ist, lässt sich allerdings nur schwer beweisen. Doch ist es für Nachtigallen nicht ungewöhnlich, über viele Jahre immer wieder an denselben Standort zurück zu kehren. Von einem Hahn im Treptower Park, den Wissenschaftler der FU-Berlin mit einem Ring gekennzeichnet haben, weiß man genau, dass er nach seinem Afrikabesuch stets wieder in den heimischen Park zurückkehrt. Seit mehr als fünf Jahren. Und das ist in Anbetracht der Strecke zwischen Berlin und dem südlichen Afrika, wo die Nachtigallen ihre Winterquartiere beziehen, nicht nur ein Zeichen der Treue, sondern auch eine erstaunliche Navigationsleistung. Zumal sich die Begebenheiten am Reiseziel mitunter erheblich verändern. Auch der Nachtigallenhahn vom Kreuzberg hat im letzten Jahr eine Veränderung bemerken müssen. Unweit seines angestammten Quartiers stören die immer höher in den Himmel wachsenden Neubauten eines neuen Wohnsilos die romantische Parklandschaft. Außerdem ist der Hahn nicht mehr der Einzige am Berg! Nur wenige hundert Meter weiter begann fünf Tage nach der Ankunft des Stammgastes ein zweiter Hahn zu singen. Nächtelang hörten die Bewohner in der Methfesselstraße den nachbarschaftlichen Konkurrenz-Dialog zweier scheinbar schlafloser Hähne. Nun sind, um den Vogelgesang am Kreuzberg richtig interpretieren zu können, einige ornithologische Grundkenntnisse nicht von Nachteil. Berliner Vogelkundlern ist bekannt, dass in der deutschen Hauptstadt aufgewachsene Nachtigallen, wenn sie nach ihrem ersten im Süden verbrachten Winter wieder zurückkehren, bevorzugt in der Nähe ihrer eigenen Geburtsorte landen. Häufig aber sind diese Reviere bereits von älteren Vögeln besetzt, die in der Regel einige Tage früher als die Jungvögel in Berlin ankommen. Die meisten Youngster suchen sich daraufhin neue Quartiere in anderen Parkanlagen. Einige von ihnen aber gesellen sich zu den Alten. Es könnte also der zweite Hahn durchaus der Sohn des langjährigen Stammgastes am Kreuzberg gewesen sein, der mit seinem Vater um die Wette und die Bekanntschaft eines netten Hühnchens zwitscherte. Dass der Neue wenige Tage später verstummte, ist für Ornithologen ein eindeutiger Hinweis auf den Erfolg seines nächtlichen Werbens: Der junge Meistersänger hat weibliche Gesellschaft gefunden. Der Alte dagegen musste weiter singen. Sobald die Weibchen eingetroffen sind, beginnt die zweite Strophe – und unter den Männchen der Konkurrenzkampf. Die Töne, mit denen die Sänger vorher gemeinsam auf sich aufmerksam gemacht haben, werden jetzt im Wettstreit um die zukünftige Partnerin gegeneinander eingesetzt. Die derart umschmeichelten Weibchen beginnen ihre Hähne allmählich am Gesang zu unterscheiden, und es dauert nur wenige Tage, bis sie sich endlich für den einen oder anderen Sänger entschieden haben. Von den verschiedenen Formen, mit denen die Nachtigallen aufeinander reagieren können, ist das »mustergleiche Antworten« die Beeindruckendste. Vor allem, wenn sie sich nicht gegenseitig »ins Wort fallen« wie streitende Ehepaare, sondern die Pausen des Anderen abwarten, um ihr Lied anzustimmen. In Kreuzberg konzertieren die Vögel im Viktoriapark, im Görlitzer Park und auch an einigen Stellen entlang des Landwehrkanals, nächtelang konnten die Kreuzberger dem Wechselgesang der benachbarten Hähne lauschen. Berliner Ornithologen haben vierzehn virtuose Nachtigallenhähne gezählt, die sich zu einem großen Kreuzberger Chor zusammengeschlossen und in einen konzertanten Rausch hineingesteigert haben sollen. In unseren Breitengraden sind die Nachtigallen mit einem Repertoire von mehr als 200 verschiedenen Strophen die berühmtesten Sänger unter den Vögeln. Viele der Strophentypen beginnen mit ähnlichen Elementen und unterscheiden sich dann vor allem im mittleren und hinteren Strophenteil, weshalb ihr Gesang gern auch mit der menschlichen Sprache verglichen wird. Allerdings werden ihre Strophen nicht aus Worten gebildet, sondern aus Elementen, Motiven, Silben und Phrasen. Dennoch können aufmerksame Zuhörer regelrechten Dialogen der Vögel folgen: Hat ein Sänger seine Strophe beendet, setzt der andere danach seine »Antwortstrophe« an. Dann übernimmt wieder der Erste. Mit Starrsinn jedoch hat das Verhalten nichts zu tun. Henrike Hultsch vom Institut für Verhaltensbiologie an der Freien Universität, die Berlin zur »Stadt der Nachtigallen« erklärte, erhellte in jahrzehntelangen Experimenten die Hintergründe für die eigensinnigen Gebaren der großen Sänger. Es sind, so die Wissenschaftlerin, vor allem ältere und erfahrene Nachtigallen, die scheinbar ungerührt und stereotyp vor sich hin singen. Spielt man ihnen aber Gesänge fremder Nachtigallen – etwa aus Südfrankreich – vor, werden sie schnell wieder dialogbereit. Und ganz so, als habe sie das deutsche Gepfeife schon lange gelangweilt, beginnen sie nach kurzer Zeit des Zuhörens die neuen Weisen ihrer französischen Artgenossen nachzuträllern. Es ist der »fremde« unbekannte Tonfall im arteigenen Gesang, der sie aufhorchen und wieder einsteigen lässt. Nachtigallen erlernen den überwiegenden Teil ihres Repertoires schon als Nestlinge durch die Gesänge der Erwachsenen, vor allem des Vaters, jedoch auch der benachbarten Vögel. Aus diesen verschiedenen Vorgaben kreieren die Vögel später ihre eigenen Lieder, die neben der individuellen Ausformung immer auch so etwas wie die akustische Marke ihrer Herkunftsgegend sind. Sie singen sozusagen im Dialekt. Ob die beiden Nachtigallen aus dem Viktoriapark den gleichen Kreuzberger Dialekt sprechen, können jedoch auch die Berliner Ornithologen nicht mit Sicherheit sagen. Die regelrechte Höflichkeit aber, mit der die beiden Sänger vom Kreuzberg in den Nächten des letzten Sommers ihre Lieder aufeinander abstimmten, ohne sich je ins Wort zu fallen, wäre zumindest ein Indiz für die These, dass es sich bei dem Gesangsduett um Vater und Sohn handelt. Der Alte erkannte den Kleinen am Gesang und nahm die Konkurrenz gelassen! Interessant allerdings könnte es in diesem Mai trotzdem werden. Denn es ist denkbar, dass sich noch ein weiterer Sohn oder ein Enkel zu den beiden Kreuzbergern gesellt. Und dann wäre es endgültig vorbei mit der nächtlichen Harmonie am Kreuzberg. • |