Kreuzberger Chronik
März 2009 - Ausgabe 105

Literatur

Der kleine Bruder


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von Sven Regener

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>ALS FRANK die Dieffenbachstraße erreichte, war es noch keine vier Uhr, aber es dämmerte schon, und in den Gaslaternen schimmerten bereits die Glühstrümpfe. Frank fror. Er trug einen Anzug seines Bruders und einen dazu passenden Mantel, aber beides taugte nicht viel gegen die bittere Kälte, und er fragte sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, seine eigenen, schon müffelnden und stellenweise auch dreckigen Sachen noch einmal anzuziehen, statt sich bei seinem Bruder was auszuleihen, das wäre vielleicht klüger gewesen, dachte er, so holt man sich ja den Tod, und bevor man ihn sich holt, dachte er, redet man schon in Gedanken wie seine eigene Mutter, das macht es erst richtig übel, dachte er, sich den Tod holen, wenn man in solchen Redensarten steckt, dachte er, dann steht es schon schlimm, das liegt nur an der Kälte, dachte er, die macht träge und stumpf im Kopf, und was macht es schon, wenn die Klamotten müffeln, die ganz Stadt müffelt doch mit ihrem Smog und ihrer Hundescheiße, dachte er, denn die Straßen waren voller Herbstlaub, und darunter verbarg sich die Hundescheiße und lauerte auf naiv und unbekümmert ausschreitende Neulinge wie ihn, das hatte er gerade eben in der Schönleinstraße auf die harte Tour lernen müssen. Das bringt überhaupt nichts, hier frische Sachen anzuziehen, geruchstechnisch machte das im großen und ganzen gesehen in dieser Stadt überhaupt keinen Unterschied, dachte er, aber andererseits sollte man auch nicht wie ein Penner aussehen und streng riechen, wenn man sich bei fremden Leuten nach seinem Bruder erkundigt, dachte er, vor allem dann nicht, wenn man einen Bruder wie Freddie hat, der stets wie aus dem Ei gepellt herumläuft, dachte er und hatte er auch vorhin gedacht, als er sich den auffälligsten Anzug seines Bruders, einen schwarzen Einreiher aus Poly-Irgendwas und ein weißes Hemd herausgesucht hatte, und auch das, dachte er, als er sich jetzt in der Dieffenbachstraße an die Gedanken erinnerte, die er beim Anlegen des erstaunlich gut passenden Anzugs gehabt hatte, ist ja schon wie die eigene Mutter gedacht, wenn man dabei einen Begriff wie »aus dem Ei gepellt« verwendet, dachte er, das kommt davon, wenn man gleich nach dem Aufwachen am Telefon mit seiner Mutter sprechen muss, das ist ein schwieriger Start in den Tag, dann läuft einem gleich gedanklich alles aus dem Ruder, dachte er, während er die Dieffenbachstraße hinunterging und dabei immer schön links und rechts nach der Galerie Ausschau hielt, die – passend zu seinem Anzug, wie er grimmig dachte – den albernen Namen Kunststoff trug, das hatte Erwin ihm jedenfalls gesagt, »Kunststoff heißt die, glaube ich«, hatte er gesagt…. •

Entnommen aus Sven Regener »Der kleine Bruder«, 2008, Eichborn Berlin, ISBN 978-3-8218-0744-7, 19,95 Euro


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