Dez. 2009/Jan. 2010 - Ausgabe 113
Essen, Trinken, Rauchen
Erbsen im Umsteiger von Hans W. Korfmann |
Erbsen im Umsteiger oder – Die kleine Heimat unter der Brücke. DIE TÜR geht auf. Es regnet, ein Autobus spritzt vorbei. Die Männer am Tresen, ein Thailänder mit Zopf und Cowboyhut, ein bärtiger Exkommunarde und ein silbergrauer Wirt, blicken zur Tür. Dort steht ein regennasser Fremder. Sein Blick fällt auf die Bilder von alten Autobussen, auf den Zeitungsausschnitt mit den Pferdedroschken auf der überfluteten Yorckstraße nach dem Wolkenbruch vom 14. April 1902, auf den Scherenschnitt von Karl Valentin. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragt die Köchin. »Zuerst muss ich mal was essen!«, sagt der Fremde und schielt zu dem Rentner, der in einer Ecke seine Suppe löffelt und ab und zu einen Blick auf die glattgestrichene Bild neben dem Teller wirft. In einer anderen Ecke sitzt Kalle. Er sieht aus, als säße er immer da. Und dann ist da noch Hugo. Der Dackel. Der sitzt unter dem Tisch und wartet höflich auf ein Stück Wurst aus der Suppe. Der Fremde studiert die Karte: Buletten, Würstchen, Erbsensuppe, drei Schmalzstullen für 1,50, Eisbein mit Sauerkraut für 5,50. Dazu gibt es Kindl in den Maßen 0,2, 0,3, 0,4 und 0,5 zu Altberliner Preisen. Der Umsteiger ist ein Klassiker. Seit 1905. »Also, wenn ich eine kleine Erbsensuppe haben könnte?« fragt der Gast. »Soll ich Ihnen die jetzt teilen, oder was meinen Sie mit klein?« Wenig später löffelt der Neue seine Suppe, als wäre der Umsteiger sein Wohnzimmer. Mit einem Ohr lauscht er den Gesprächen am Tresen. »Am Freitach war der Axel wieder da«! – »Ach, is ja herrlich!« – »Ja, und er hat noch janz genau gewusst, wo der Asbach steht!« Mit dem andern Ohr hört er dem Wirt zu, der ihn zum »Schlachtfest« mit Kesselfleisch und Blutwurst vom Weltmeister aus Neukölln einlädt. Und zu »Prosa und Advente« mit Knödel, Rotkohl und Sketchen von Loriot. Lustigen Abenden im Niemandsland unter den Yorckbrücken. »Hierfür fühlt sich ja niemand zuständig. Ich wollte mal Sperrmüll abholen lassen und rief in Kreuzberg auf dem Amt an. Die sagten, ich solle in Schöneberg anrufen. In Schöneberg sagten sie, ich solle in Kreuzberg anrufen. Und so weiter. Das Ordnungsamt war auch noch nie da, zwischen der Bautzener und dem Bahnhof ist rechtsfreier Raum. Wir wollten schon die autonome Republik ausrufen.« »Hat´s geschmeckt?«, fragt die Köchin. »Wie bei Muttern!«, sagt der Neue. »Wuff«, sagt Hugo unter dem Tisch. »Nach dem Krieg sind wir hier in den Bus umgestiegen, wenn wir die Tanten in Berlin besuchten. Aber hier drin waren wir nie!«, sagt der Neue und wundert sich, dass er »nach so vielen Jahren…« Drei Stunden später sagt der Kommunarde: »Ich komm dann morgen noch mal ´n Hunderter dalassen!« Er ist schon in der Tür, da ruft der Neue: »Wer jetzt noch ´n Hunderter in der Tasche hat, ist ´n Geizkragen!« Die Tür geht auf, es regnet, ein Autobus spritzt. Alles ist wie immer. Nur dass der Umsteiger jetzt einen Stammgast mehr hat. • |