Kreuzberger Chronik
Oktober 2007 - Ausgabe 91

Essen, Trinken, Rauchen

In der Stadtklause am Anhalter


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von Michael Unfried

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Er ist ein guter Wirt. Allerdings nur nebenberuflich. Und nur einer der drei Kneipiers der Stadtklause am Anhalter Bahnhof. Vor einem Jahr haben sie ein Lokal übernommen, das einst Askania hieß. Aus dem Nichts zaubert der Wirt einen vergilbten Zeitungsausschnitt hervor, mit einem Bildchen von früher und einem allmählich verblassenden Text: »Gepäckträger, Droschkenkutscher und Taxifahrer waren die ersten Stammgäste im Askania«.

Die Kneipe in der Bernburger Straße gab es schon, als am Potsdamer Platz die Kutschen standen. »Und obendrüber, über der Kneipe, wo die knarrende Holztreppe raufgeht, die zwei niedrigen Räume, da haben sie gewohnt.« Die letzten Jahre allerdings hatte die alte Klause leergestanden. Obwohl sie nur einen Steinwurf vom Potsdamer Platz entfernt ist. »Die St. Lukas Kirche ist von 1865, und in dieser Zeit entstanden auch der Anhalter und das Haus hier. Die Deckenträger sind alles noch alte Schienenstränge. Die haben damals alle Schienenstränge vom Anhalter genommen.« Wenn von Vergangenem die Rede ist, werden die Augen des Wirts größer. So, als sähen sie tatsächlich etwas da in der Ferne.

Wäre das Haus nicht so alt und läge es nicht so geschichtsträchtig zwischen dem legendären Anhalter und dem Potsdamer Platz, der in den Zwanzigern »der hektischste Verkehrsknotenpunkt Europas« gewesen sein soll, und an dem »die erste Ampel der Welt« leuchtete, dann wäre der Wirt womöglich nie auf die Idee gekommen, eine Kneipe aufzumachen und Brot zu backen, fünf Kilo schwer jeder Laib! Brote, wie man sie wohl sonst nirgends mehr findet in Berlin. Auch das Griebenschmalz muß nach historischem Rezept gekocht worden sein. Bier gibt es in tönernen Humpen, die Sitze sind aus alten SBahnwaggons, nur die Leuchten könnten einmal auf den Tischen der MitropaSpeisewagen gestanden haben. »Die sind aber von Aldi!« Ganz unnostalgisch.

Der Wirt ist ein guter Wirt. Er lächelt über das schwule Pärchen, das alkoholfreies Bier und koffeinfreien Kaffee verlangt. Aber er lacht nicht über sie. Und weil das Pärchen tatsächlich die ganze Bildergalerie mit Fotografien abwandert – die alle nur ein einziges Motiv zeigen, nämlich den Anhalter Bahnhof! – und weil sie sich den Kopf verrenken, nur um die Worte zu entziffern, die an der Decke stehen, bringt er mit den Getränken auch ein Buch an den Tisch. Es ist der »Literarische Führer durch Bahnhöfe«, ein Buch voller Oden an die Bahnhöfe dieser Welt. Dort ist auch jener Textauszug zu finden, den der Wirt an die Decke geschrieben hat.

»Wißt ihr, von wem das ist?« – »Ich tippe auf Fallada!« »Nein, das ist Benjamin!« Und dann lesen alle drei andächtig: »Abreise und Rückkehr: Der Lichtstreif unter der Schlafzimmertür, am Vorabend, war er nicht das erste Reisesignal? Drang er nicht in die Kindernacht voller Erwartung …? « Ein paar Seiten weiter stoßen sie auf Paul Celan: »Über Krakau / bist du gekommen am Anhalter / Bahnhof / flog deinen Blicken ein Rauch zu / der war schon von morgen …«

»Ihr müßt entschuldigen«, sagt der Wirt plötzlich zu den Schwulen, »ich muß jetzt weg. England spielt, die zweite Halbzeit schaff ich noch.« Die Schwulen haben keine Ahnung, »England gegen wen?«, fragen sie. »Gegen Deutschland, Mann! «, sagt der Wirt. »Aber verraten Sie uns doch noch ihren Namen«, bitten die beiden Schwulen, die den netten Wirt schätzen gelernt haben. »Franz«, sagt er. Und dann fügt er etwas verschämt hinzu: »Franz Joseph Göbel.« – »Ein historischer Name!«, bemerkt der Kleinere vom Pärchen. »Wahrscheinlich sind Sie eigentlich Historiker?« – »Stimmt!«, sagt Göbel, »Hab ich studiert. Aber jetzt muß ich wirklich gehen …«


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