Kreuzberger Chronik
Mai 2007 - Ausgabe 87

Die Geschäfte

Das Antiquariat Herold


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von Ina Winkler

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Natürlich haben die Räume alter Bibliotheken und Antiquariate etwas Magisches. Sie sind voller verstaubter Geheimnisse. Schon Kinder wissen, daß zwischen den dicken Buchdeckeln das Wissen der Menschheit verborgen ist, daß die noch unentzifferbaren Buchstaben der Schlüssel zu anderen Welten sind, die Stimme wunderbarer Geschichten, die weit aus der Gegenwart heraus in die Vergangenheit oder die Zukunft führen können. Nicht nur, um Lesende nicht zu stören, wird zwischen alten Buchregalen so viel geflüstert: Es ist die Ehrfurcht vor dem versammelten Wissen. Deshalb fällt es oft auch schwer, sich von Büchern zu trennen. Selbst, wenn man sie längst gelesen hat, mehrmals schon. Und doch gibt es Momente, in denen man sich trennen muß. Es kommt der Tag, »an dem kein Millimeter mehr Platz ist« für ein neues Buch, an dem man umziehen müßte, wenn man auch nur einen einzigen Roman hinzufügen wollte zu seiner Sammlung. Und das ist der Augenblick, auf den Antiquare warten. Wenn begeisterte, leidenschaftliche Leser eine Kiste voller Bücher zusammenpacken und zum Antiquariat gehen. Nicht in das erstbeste, nicht eines mit Ikearegalen, und auch nicht in eines, in dem Tschechow neben Donald Duck steht. Am liebsten in eines, in dem noch einige alte Eichenholzregale stehen, deren Träger mit symbolträchtigen, hieroglyphenartigen Schnitzereien und den hölzernen
Profilen langbärtiger Philosophen verziert sind, und die bis unter die Decke reichen. Ein Antiquariat, in dessen Winkeln und Kammern die vielen Bücher oft nicht stehen, sondern liegen, weil sie zu hoch gewesen wären für die Regalfächer, und wo einige Exemplare, geordnet nach dem schwer durchschaubaren System eines schweigsamen Archivars, ihre zum Teil schon jahrzehntealten, angestammten Plätze haben. Eines, durch dessen große Fensterscheiben vielleicht manchmal morgendliche Sonnenstrahlen fallen, um den feinen Staub in einen glitzernden Sternenregen zu verwandeln, sobald jemand die Tür öffnet und ein Windstoß über die alten Buchrücken fährt.

Foto: Dieter Peters
So eines ist das Antiquariat von Helga Herold in der Hagelberger Straße. Einen schöneren Ort für Bücher gibt es nicht, als das ehemalige Kolonialwarengeschäft Ernst Rank mit seinen alten Schüben und Läden und gläsernen Kästen, in denen einmal Mehl, Erbsen, Zucker und Kaffee lagerten. Selten kommen Bücher besser zur Geltung als im denkmalgeschützten Eichenregal, das schon im Vorspann des Bücherjournals von Arte zu sehen war, und das eigentlich ins Deutsche Historische Museum hätte wandern sollen, bis man merkte, daß man es hätte zersägen müssen, weil es viel zu hoch war für die Ausstellungsräume. Also entschloß man sich, es am Kupfergraben noch einmal nachzubauen. Zum Original aber kommen manchmal alte Frauen, die hier einst Lebensmittel kauften, oder Männer, die bei Rank in die Lehre gingen. Botenjungen, die die Stammkunden in der Straße belieferten, und die sich noch erinnern an
Foto: Dieter Peters
die schmalen Stufen, die genau dort, wo jetzt der Tresentisch steht, in den kühlen Getränkekeller führten. Ernst Rank soll gut zu seinen 11 Angestellten gewesen sein. Heute ist Helga Herold meistens allein. Bücher bringen eben nicht so viel ein wie Brot und Wurst.

Doch im Leben von Helga Herold drehte es sich immer wieder um Bücher. Deshalb fiel ihr nur eines ein, als sie plötzlich arbeitslos wurde und überlegen mußte, was sie nun machen sollte mit ihren zwei Kindern und den 43 Jahren: Bücher. Die Bücher, die sie ein ganzes Leben lang begleitet hatten, die sie schon als Kind aus der Enge der von sieben Kindern und zwei Erwachsenen bewohnten 60 Quadratmeter führten, als Figuren wie Pipi Langstrumpf oder Nils Holgerson sie faszinierten, bis sie später weniger humorvolle Lektüre wie die Jelinek las, oder den Tschechow eben, ihren »großen Liebling«, der seine Figuren »immer so liebevoll beschrieb«. Oder Alexander Sorokin … Überhaupt: Die Russen haben es ihr angetan, sie weiß nicht, warum. »Aber die russischen Klassiker haben ja sogar die deutschen Soldaten fasziniert«, als die in Rußland mit der Kälte und dem Tod kämpfen mußten. Sogar ihnen hatten die Bücher manchmal helfen können. Die Antiquarin kann ins Schwärmen geraten, wenn es um Bücher geht.

Und als ihr plötzlich jemand diese wundervolle Kolonialwarenhandlung von Ernst Rank zeigte, die schon seit Monaten leer stand, da kam sie ins Grübeln. Sie hatte nie daran gedacht, einen Laden zu eröffnen, doch die Miete war so günstig, daß sie nicht lange zögerte, ihre Bücher in fünfzig Kartons packte und sie von Moabit nach Kreuzberg fuhr. Mehrmals hat inzwischen der Besitzer des Hauses gewechselt, aber die Buchhändlerin »hatte Glück«, sie waren »äußerst anständig und wollten alle, daß dieser Laden genau so bleibt, wie er ist.« Auch sie konnten sich offensichtlich dem Charme der alten Bücher in den alten Regalen nicht entziehen. Ebensowenig wie die Kunden. »Es lief ziemlich gut in den ersten Jahren«, obwohl die Hagelberger Straße schon ein Stück weit weg ist von der Bergmannstraße, und obwohl Berlin »ein schlechtes Pflaster war für Bücher. Das Angebot war enorm«, die Nachfrage gering. Aber jetzt, da antiquarische Bücher nicht mehr nur allein an die Menschen auf der Straße, sondern über’s Internet in ganz Deutschland verkauft werden, »beneiden uns die westdeutschen Antiquare« um unsere großen Archive und die billigen Mieten.

10.000 lieferbare Bücher hat Helga Herold angesammelt, in den hinteren Räumen des alten Ladens stapeln sich die Kisten bis unter die Decke. Genug sind es trotzdem nie. Und immer ist »der schönste Moment im Leben eines echten Antiquars, wenn jemand mit einer Kiste voller Bücher in den Laden kommt.« Dann bricht dieser Sammlerinstinkt der Bibliophilen durch, »die Jägernatur der Intellektuellen.« Das größte Schnäppchen aber machte sie ausgerechnet auf der Bergmannstraße, als die Jelinek-Leserin in der Ramschkiste auf dem Gehsteig ein Buch der Nobelpreisträgerin fand. Eines mit Signatur! Obwohl die Jelinek den Kontakt zur Öffentlichkeit mied und so gut wie nie ein Buch signierte.

Doch nicht nur die Antiquarin findet Raritäten. Manchmal sind es auch die Kunden. Frauen mit grauen Haaren und Lesebrillen, die nach einer gänzlich unbekannten Autorin fragen, neugierig an den alten Regalen entlangschreiten, auf die gerade ein morgendlicher Sonnenstrahl fällt, in den alten Büchern blättern und lesen, aus denen dieser einzigartige Geruch alten Papiers und alten Wissens entströmt, und die dann plötzlich stehenbleiben und sagen: »Na, da ist es doch!« Helga Herold erzählt das mit einem Lächeln. Sie weiß, sie hat Glück gehabt, als sie vor zehn Jahren mit ihren Kisten hier einzog. »Ich komme tatsächlich noch jeden Tag gerne hierher.«

Ina Winkler


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