Kreuzberger Chronik
Dez. 2007/Jan. 2008 - Ausgabe 93

Die Geschichte

Milch aus Kreuzberg


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von Hans W. Korfmann

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Der Klavierstimmer vom Leierkasten erinnert sich noch genau, wie er 1969 in eine dieser günstigen Kreuzberger Hinterhofwohnungen zog. Der Musiker mit dem empfindlichen Gehör war froh, als er beim Einschlafen feststellte, wie ruhig die Lage seiner neuen Wohnung war. Am Morgen jedoch weckte ihn das Geräusch eines heftigen Platzregens, der auf das Hofpflaster prasselte. Als er ans Fenster trat, verstand der Mann am Klavier, daß es die Kühe im Stall waren, die im Morgengrauen eine nach der anderen ihr Wasser ließen.

Bis die Eisenbahn frische Milch aus den Dörfern in die Stadt brachte, waren Ställe in Berlin keine Seltenheit. Dann allerdings verschwanden viele Kuhställe aus dem Stadtbild, bis zu 200 Kilometer legte die sogenannte Bahnmilch zurück und versorgte den Berliner im Jahr 1893 statistisch mit 127 Gramm täglich. Etwa halb so viel Milch erreichte den Städter noch mit dem Pferdekarren. Doch die Bahnmilch und die althergebrachte Achsenmilch konnten die beliebte Stadtmilch nie ganz aus dem Wettbewerb verdrängen. Im Gegenteil, das steigende »Verlangen nach frischer, unverfälschter Milch« ließ die Zahl der Kuhhaltungen von fünf im Jahre 1864 wieder auf 397 im Jahre 1893 ansteigen, man zählte in Berlin stolze 5017 Kuhköpfe. Nicht selten standen die Vierbeiner auf engstem Raum, Bewegung hatten sie so wenig wie grünes Gras, doch die Berlinerinnen schworen auf ihre Frischmilch.

Bis heute zeugen die Remisen in den Hinterhöfen von den ehemaligen Unterständen für das geliebte Milchvieh. Anfang des 20. Jahrhunderts befand sich, wie der Kreuzberger Kiezhistoriker Lothar Uebel recherchierte, »in fast jeder Straße der eng bebauten zentrumsnahen Stadtteile mindestens ein Hinterhof mit einem Kuhstall, der die Bewohner der nächsten Umgebung mit Milch, Butter und Käse versorgte.« So gab es in der kleinen Nostitzstraße um 1930 neben Fleischern und Bäckern noch drei Melkereien und zwei Milchhandlungen. Und nicht weit entfernt, am Fuße des Kreuzbergs, befand sich einer der größten »Abmelkbetriebe« Berlins: die sogenannte Milch-Kur-Anstalt am Victoriapark.

Foto: Dieter Peters











Die an der Kreuzbergstraße Nr. 27/28 gelegene Molkerei hatte es sich zur Aufgabe gemacht, qualitätsvolle Milch für die Ernährung von Kindern und Kranken zu produzieren. 1888 wurden die ersten, sorgsam ausgewählten Vierbeiner in die von Stadtbauinspektor Streichert entworfenen Gebäude aufgenommen. Man achtete darauf, möglichst junge Vertreter gesunder Hochlandrassen einzustellen und ließ die Kühe nur für die Dauer »einer Nutzungsperiode« in den großzügigen Stallungen, von denen die Artgenossen in der Nostitzstraße nur träumen konnten. Gefüttert wurde das edle Vieh ausschließlich mit »würzigem Hochlandheu«, als Streu diente ausschließlich Torfmull, und die Futterkrippen waren aus feinstem Zement und mit eigenen Wasserhähnen und Abflüssen ausgestattet. Die Paneele für die wertvollen Wiederkäuer waren komplett aus »Mettlacher Fliesen«, und die Fenster blickten nach Osten und Westen und sorgten für frische Luft. Die Jauche verschwand


Foto: Postkarte
Die Milchwirtschaft am Viktoriapark (um 1914). Privatsammlung Michael Röblitz

Foto: Postkarte
ohnehin gleich in der städtischen Kanalisation, und der Dünger landete in einer hermetisch abgeriegelten Jauchegrube.

Die hygienischen Bedingungen ließen selbst unter Medizinern keine Wünsche offen, und damit nicht ein ungewaschener Zweibeiner die sauberen Kühe mit Krankheitskeimen verseuchte, richtete man für die Viehwärter der Anstalt »Wannen- und Brausebäder« ein. Um die Milch möglichst keimfrei zu erhalten, hatte die Anstalt am Kreuzberg Sterilisationsapparate eingerichtet, in welchen die Milch auf 100 Grad erhitzt wurde. Bis zum Bethanien-Krankenhaus war es nicht weit, doch die Milch vom Kreuzberg stand in dem Ruf, »wochenlang frisch und unzersetzt« zu bleiben.

Kein Wunder, daß es in der Nähe gleich zwei Milchbars gab: die »Milchwirtschaft« im Viktoriapark und die »Milchtrinkhalle« mit dem »Milch-Kurgarten« auf dem Gelände der Kuranstalt. Die Adresse war eine feine, im Quergebäude waren die Wohnungen der Bediensteten, sowie verschiedenste Wirtschaftsräume untergebracht. Das repräsentative Vorderhaus mit seinen stilvollen Fassaden diente als Wohnhaus für die Besserverdienenden. Das Imposanteste allerdings an dem architektonischen Ensemble, das bis heute erhalten ist, war der Kuhstall. Nicht weniger als 250 Kühe hatten hier, verteilt auf zwei Stockwerke, ihre Stallungen. Davon träumten nicht nur die Kühe aus der Nostitzstraße. Davon träumt so mancher Bauer noch heute.

Hans W. Korfmann

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