Kreuzberger Chronik
April 2007 - Ausgabe 86

Die Reportage

Verschnupfte Reden um den heißen Brei


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von Michael Unfried

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Jetzt, wo es zu spät ist, reden alle vom Klimawandel. Sogar die Politiker. Doch niemand weiß, was man von diesem lauen Winter wirklich halten soll: Ein echter Winter war es nicht, aber Schnupfen hatten trotzdem alle. Auch den grünen Bezirksbürgermeister hat es in diesem Jahr erwischt.

Kaum war der Baurat wieder zum Bürgermeister gewählt, begann es in Kreuzberg an allen Ecken zu brodeln. Während es zu Reinauers Zeiten lediglich die Markthalle und der Abriß der Habelschen Trinkhalle waren, die die Kreuzberger aus der Reserve lockten, war nun auch der Streit um den Gasometer in der Fichtestraße neu entfacht. Gerüchte von einem Glasaufbau machten die Runde, und von Luxusappartements im einstigen »Fichtebunker«.

Doch damit nicht genug: Auch der alljährliche Streit um den 1. Mai drohte den üblichen Rahmen zu sprengen. Einige Myfest-Veranstalter hatten dem Bezirksamt einen, wie sie es formulierten, »kleinen Besuch« abgestattet. Die Besuchten dagegen sprachen vom »Überfall«. Ausgerüstet waren die Demonstranten des Vormai-Protestes nicht mit Pflastersteinen, sondern mit einer Videokamera. Den Film, der die überraschten »Zentrale AG-1.Mai« bei ihrer Tagung im Bezirksamt zeigt, stellten sie ins Netz. So waren Kreuzberg und der 1. Mai schon im Februar in allen Zeitungen, der Tagesspiegel titelte: »Friedliches Myfest als Gegenpol zu spät geplant«, und die unverwechselbare Plutonia Plarre von der taz schrieb bereits: »Jetzt steht das Fest auf der Kippe«. Als Ursache der allgemeinen Verschnupfung vermuteten die Berliner Zeitungen einen
politischen Klimawandel: den Wechsel von Rot auf Grün.

1968
Foto: Michael Hughes
1. Mai 1986. Fotos: Michael Hughes

Die ungebetenen Gäste wollten mit dem Film gegen die Ausgliederung langjähriger Organisatoren des Myfestes und gegen einen »beratungs-
resistenten« Bürgermeister protestieren. Seit drei Jahren nämlich kümmerten sich die Anwohner selbst um das Fest am Mariannenplatz, unterstützt von einem multifunktionalen Konglomerat aus Vereinen, Geschäften und Ämtern, unter anderem dem Bierhimmel, dem Wolladen, dem Café Alibi, Türkiyemspor, dem Berlin lacht e. V., der Feuerwehr, der St. Thomas-Gemeinde, dem Hongkong-Import, der Polizeidirektion 5 oder dem Kotti e. V.. So chaotisch das Netzwerk der Veranstalter zu sein scheint, so gut hat es funktioniert. Das Fest mit seinem Musikprogramm auf 16 Bühnen, multikultureller Folklore, Bratwurst, Köfte, Picknickstimmung und Luftballons für die Kleinen erfreut sich einer größer werdenden Beliebtheit. Und tatsächlich sind – das bestätigt auch der amtierende Bürgermeister – die von den Mai-Demonstrationen ausgehenden Randalen in den letzten Jahren weniger geworden. Denn schon die Internetseite der Kiez-Veranstalter macht klar, daß dieses Fest nicht für Chaoten ist, sondern »für alle, die miteinander sein wollen. Die lieber Bier als Wasserwerfer spritzen sehen, lieber Musik als Sirenen hören, lieber tanzen als wegrennen, lieber küssen als schlagen …«

Der wiedergewählte Bürgermeister aber – so zumindest vermuteten es einige Tageszeitungen – schien auf die Beteiligung des Volkes verzichten zu wollen. Ähnliches soll auch Silke Fischer vom Quartiersmanagement Mariannenplatz empfunden haben, die gemeinsam mit Monika Wagner vom Kotti e. V. in den vergangenen Jahren das Fest organisierte und eng mit der ehemaligen Bürgermeisterin Reinauer zusammenarbeitete. Denn Silke Fischer wurde zum 1. Planungstreffen der »Zentralen Arbeitsgemeinschaft 1. Mai« in diesem Jahr nicht mehr eingeladen. Als Grund dafür wurde seitens des Bezirksamtes der grippale Infekt angegeben, der auch Frau Fischer nicht verschont habe. Doch alle Hinweise darauf, daß Fischer womöglich tatsächlich wegen der in allen politischen Parteien kursierenden Verschnupfung fehlte, boten den kursierenden Gerüchten keinen Einhalt mehr. Frau Fischer, so hieß es, habe aussortiert werden sollen. Dementsprechend groß war der Lärm. Sogar parteipolitisches Kalkül wurde vermutet, waren doch Frau Fischer SPD-Parteimitglied, Frau Reinauer PDS-nah, und Herr Schulz ein Grüner.

1968
Foto: Michael Hughes
Am 22. Februar allerdings saßen die verschnupften Streithähne wieder in friedlicher Koalition am Tisch. Sogar das brave Anzeigenblättchen Berliner Woche schrieb: »Jetzt haben sich alle wieder lieb!« Tatsächlich war der Bürgermeister trotz heftigen Schnupfens persönlich im Souterrain der Mariannenstraße 48 erschienen, um zu verkünden, daß man Frieden geschlossen habe. Niemand erhob Einspruch! Nicht der echte Kreuzberger mit dem breiten Lachen und der breiten Baseballmütze, nicht Monika Wagner vom Kotti e. V. mit den roten Haaren und einer ebenfalls vom Wetter stark angekratzten Stimme, und auch nicht Frau Fischer, die sich mit einer Pudelmütze vor den Launen des Wetters zu schützen suchte. Auch nicht das zahlreich erschienene Volk. Es verhielt sich ganz gegen seine Gewohnheit und völlig ruhig. Die einzigen möglichen Störenfriede, die Journalisten, wurden aussortiert, »Presse« war »unerwünscht!« Es war genug Gerede in Umlauf gebracht worden, jetzt wollte man die Sache in Ruhe ausdiskutieren und die Posten verteilen.

Der Bürgermeister sprach viel, aber leise. Der Infekt hatte die Stimmbänder angegriffen. Doch Dr. Schulz wird ohnehin selten laut, mit leiser Stimme zwingt er die Versammelten zu Ruhe und Zuhören. Womöglich lag es allein an dieser meditativen Stille, daß sich nur wenige aus dem Kreuzberger Volk fingeraufzeigend wie in der 1. Klasse zu Wort meldeten. Immer waren die Beiträge konstruktiv, immer kamen sie von den Mitgliedern der Myfest-Organisation: »Ich soll darauf achten, daß auf der Straße keine Dosen verkauft werden. Das ist hoffnungslos. Es wird gesoffen und gesoffen. Das Problem sind ja nicht die fünf Leute, die Dosen aus Pappkartons verkaufen, sondern die Läden! Die verkaufen tonnenweise Bier. Und das kann man denen ja auch nicht verbieten, wenn die einmal im Jahr ein bißchen Umsatz machen!«

Der Bürgermeister nickte verständnisvoll, das Gespräch verlief günstig, man kam schnell vom Hölzchen aufs Stöckchen. Dr. Schulz verteidigte die Büchsenmaßnahme und versuchte, den Büchsenkontrolleur von der Sinnhaftigkeit seiner mühevollen Arbeit zu überzeugen: »Es ist doch etwas anderes, wenn ich mir mein Bier um die Ecke holen muß, oder wenn ich es alle fünf Meter angeboten bekomme!«

»Man sollte so einem Fest nicht mit Verboten begegnen!«, widerspricht da tatsächlich einer mit dekorativer Baskenmütze. »Außerdem sind Büchsen wesentlich ungefährlicher als Flaschen, da spreche ich aus eigener Erfahrung …« Im Saal wird gelacht, auch Dr. Schulz lacht. Der Streit im Vorfeld scheint der Vorfreude Platz zu machen. Einer erzählt, daß es in den letzten Jahren kaum Abfall gegeben hätte, weil seit Einführung der Pfandpflicht Sammler mit großen Einkaufswagen durchkommen, um Büchsen und Flaschen aufzulesen. Auch das hört der grüne Politiker gerne. »Und die Bühne kommt wirklich wieder da hin, wo sie letztes Mal war?«, fragt der mit der Baseballmütze. Schulz nickt. Das von Monika Wagner vorgelegte Konzept sei »längst durch«.

Und jetzt meldete sich auch die Frau mit der Pudelmütze noch einmal zu Wort. Silke Fischer hatte während des Gespräches nicht am Tisch gesessen, sondern meist schweigend daneben gestanden. Jetzt unterstrich sie noch einmal, daß das Myfest ihr Fest, also immer ein Fest der Bürger gewesen sei. Und daß es auch ein Fest der Bürger bleiben müsse. Auch Silke Fischer, die Vermittlerin zwischen Volk und Bezirk, machte einen zufriedenen Eindruck. Es schien, als habe man sich längst geeinigt. Und als sei die mit Spannung erwartete Diskussion im Souterrain der Mariannenstraße nur eine Schauveranstaltung. »Ich möchte zum Schluß noch einmal etwas zur Zeitleiste sagen«, sagte Fischer und machte dem versammelten Volk noch einmal klar, an wen es sich künftig bei Fragen zur Organisation zu richten habe: »Das komplette Veranstaltungsprogramm muß bis zum 20. März vorliegen!«

Später, nachdem die Veranstaltung mit »einem herzlichen Applaus für unseren Herrn Bürgermeister« beendet worden war, stand sie inmitten einer kleinen und etwas ratlos wirkenden Gruppe von Mitstreitern. Als jemand fragte: »Ja, trinken wir jetzt Sekt oder Selters?«, antwortete Fischer: »Beides! Jetzt ist erstmal Frieden. Jetzt geht’s erst richtig los!« Das klang beinahe so, als könne es sich bei dem ausgehandelten Frieden auch nur um einen kurzfristigen Waffenstillstand handeln. Falls noch einmal jemand von oben das Fest von unten unterlaufen wollte.

Währenddessen erwartete draußen eine noch junge Frau ihren Bürgermeister: »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich enttäuscht bin. Unter einem grünen Politiker habe ich mir etwas anderes vorgestellt«! Die Frau war tatsächlich noch jung und lächelte freundlich, auch der Bürgermeister lächelte. Aber nach und nach verschwand das Lächeln, nach und nach stellte sich heraus, daß sie eine jener Rathausstürmerinnen war, und je weiter man sich ins Gespräch vertiefte, um so hoffnungsloser verstrickte man sich. Dr. Schulz bestand darauf, daß man den Aktivisten schließlich einen Platz angeboten und sie zur Mitarbeit eingeladen hätte, was die Invasoren aber strikt abgelehnt hätten. Die enttäuschte Sympathisantin der Grünen ihrerseits beharrte darauf, daß sich die Runde im Bezirksamt nicht sonderlich gesprächsbereit gezeigt hätte. Wovon sich jeder überzeugen könne, wenn er sich bei youtube. de das Myfest-Video ansehe.

Am Ende aber trennte man sich auch hier, wo die Fronten noch einmal hart aufeinanderstießen, mit einem Lächeln. Der Bürgermeister sah ein, daß er die junge Frau »an diesem Abend wahrscheinlich nicht mehr bekehren« könne, und die potentielle Grünwählerin verstand, daß auch Politiker mitunter eisern ihre Standpunkte vertreten. Also einigte man sich darauf, daß Menschen durchaus zu verschiedenen Wahrnehmungen der selben Situation kommen konnten. Tröstend allerdings ist, daß trotz offensichtlich verschiedenster Sichtweisen und Mißverständnisse der Demonstrationsbesuch im Rathaus zu einem Konsens geführt haben muß, der sich in einem konkreten Termin manifestierte: der großen Diskussion an diesem Donnerstag, dem 22. Februar. Wie sonst hätten alle Beteiligten so pünktlich und friedlich vereint in der Mariannenstraße Nummer 48 sein können?

Michael Unfried

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