Kreuzberger Chronik
September 2005 - Ausgabe 70

Kreuzberger Legenden

Otto Nuscke


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von Dr. Seltsam

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2005 jährte sich zum dreißigsten Male die Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz durch die »Bewegung 2. Juni« in das »Volksgefängnis« im Keller der Schenkendorfstraße 7, eine politische Aktion, die uns heute erstaunlich modern anmutet, weil überflüssige Opfer vermieden wurden und der Zweck, die Freilassung einiger linker Gefangener, so schnell und planmäßig erreicht wurde, daß sogar Pfarrer Albertz damit sympathisierte. Es gab jedoch eine andere Entführung eines CDU-Vorsitzenden nach Kreuzberg, zwanzig Jahre vorher, und aus denkbar anderen Motiven.

Am 17. Juni 1953 war Ostberlin im Aufruhr, und so fuhr der Vorsitzende der CDU der DDR, Otto Nuschke, ein großer schöner Mann aus christlicher Familie, mit seinem kleinen Dienstauto einen Umweg zum Büro. Statt durch die umkämpfte Innenstadt tuckerte er an der Spree entlang, als er an der Oberbaumbrücke in einen Pulk von Rowdies aus dem Westen geriet, die im »Volksaufstand« irgendwie mitmischen wollten. Jedoch gab es weder etwas zum Zündeln, noch Vopos zum Verprügeln, weshalb sie nur so herumrandalierten. Übrigens hatten fast alle der später am 17. Juni Umgekommenen Westberliner Pässe, sie wollten den Ostberlinern vorführen, wie Deutsche Helden die »Zoffjets« besiegen, zehn Jahre nach Stalingrad. Otto Nuschkes Auto wurde von der johlenden Halbstarkenmeute einfach angehoben und auf die Kreuzberger Seite geschleppt. Der CDU-Vorsitzende wurde rausgezerrt, geknufft und verprügelt, bis ein gnädiger West-Polizist ihn in »Schutzhaft« nahm und in die Kasernen des Polizeipräsidiums in der Friesenstraße expedierte.

Hier bekam er nun das ganze »Kommunisten«-Programm zu schmecken: Er wurde erkennungsdienstlich behandelt, nach Waffen durchsucht, von der politischen Polizei verhört, dann der amerikanischen Besatzungsmacht »überstellt«, die ihn zum Dableiben überreden wollte. Erst durch Hungerstreik und Intervention des sowjetischen Hochkommissars wurde er drei Tage später durch amerikanische Geheimdienstleute zum Übergang Prinzenstraße geführt und direkt an die Ostgrenzer übergeben, damit er im Westen niemanden kontaktieren konnte - so gefährlich war den USA der unnachgiebige Friedensfreund.

Diese Abschiebung geschah heimlich, während noch drei Tage zuvor die Westpresse sich wie Geier auf den CDU-Chef gestürzt hatte in der Hoffnung, einen Kronzeugen gegen Ulbricht präsentieren zu können. Am Ausgang der Friesenkaserne war ein Ü-Wagen vom RIAS postiert und wartete gemeinsam mit zwei Dutzend Reportern der Weltpresse auf Nuschke, der nun zu den Amerikanern gebracht werden sollte. Auf die Frage, ob er mit dem Einsatz von Panzern in der DDR einverstanden sei, antwortete er: »Sie haben nicht geschossen mit Kanonen, sondern sie haben nur demonstriert, daß sie da sind.«

»Woher wissen sie das?«

»Weil ich dabei war.«

Fazit: Kreuzberg ist der Bezirk der entführten CDU-Vorsitzenden. Man kann rein statistisch sagen: Von allen (2) CDU-Vorsitzenden, die jemals entführt wurden, hat man 100 % nach Kreuzberg entführt  und übrigens heil wieder freigelassen: Die blutrünstige Gewalttat war nie Sache der Kreuzberger. Läßt uns das für die Zukunft hoffen? Wahrscheinlich nicht. Denn falls jemand Angela Merkel entführen würde, bestünde die Gefahr, daß niemand sie zurückhaben will...


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