Kreuzberger Chronik
Mai 2004 - Ausgabe 57

Kreuzberger Legenden

Kreuzberger Legenden (4):
Gewalt und Folkore



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von Dr. Seltsam

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Lang ist’s her: In der taz vom 30.1.88 verlieh mir Grünen-MdB Franziska Eichstätt den Titel »Vater der Gewalt in Kreuzberg«. Zuviel der Ehre, ich hatte lediglich in den Spalten der legendären »Ersatz-Taz« zuvor die jugendlichen Kübelwerfer und Streetfighter gegen den Vorwurf in Schutz genommen, Randale sei »sinnlose Gewalt«. Natürlich konnte man das alles »multifaktoriell erklären«, von Indianerspiel bis Frühlingsnacht, aber die Wiener Straße war nun mal laut »P4«-Kommission die ärmste Gegend Westberlins, und die Wutausbrüche perspektivloser Jugend kann man heute wohl besser verstehen, wo neoliberale Globalisierer die halbe Menschheit zum sozialen Holocaust verurteilen wollen. In Kreuzberg erlebt man soziale Veränderungen früher als anderswo.

Die Hausbesetzerbewegung hatte den gesamten Nordteil von SO36 jenseits des Kotti vor dem Autobahnbau gerettet und die »behutsame Stadterneuerung« durchgesetzt; Erfolge, die ohne »Gewalt« unmöglich gewesen wären und die heute jeden mit Dankbarkeit erfüllen. Nach dem Brand der Bolle-Filiale am 1. Mai ’87 sah ich junge Besucher vom Turnerfest leuchtenden Auges um die Ruinen schleichen und überlegen, ob sowas bei ihnen in Reutlingen nicht auch möglich wäre. Dringender Bedarf also, die politischen Unruhen gründlich zu delegitimieren. Das gelang später im Fall DDR besser, aber hier in Kreuzberg konnten die Herrschaftstechnokraten schon mal üben: ABM, SAM, Polizei; es gab Geld für Planer und willige intellektuelle Abwiegler sowie eine eingeschworene Öffentlichkeit aus Kirchen, Medien und Parteien, die nur ein Gebet kannte: »Der Mensch ist für den Kommunismus nicht geeignet!«

Dazu die wohlmeinenden Ladenbesitzer und Taz-Autoren, die gebetsmühlenartig forderten, man solle »die entleerten Rituale« bleiben lassen und lieber »phantasievoll« oder besser gar nicht demonstrieren. Pech für sie, Slumriots gibt’s nun mal im Slum, schon weil es in den Reichenvierteln zu viele Zäune gibt. Es kamen sogar Kids aus Zehlendorf mit Papis Benz angefahren, um sich im Kampf mit Polizisten pubertär zu messen; und Leibwächter des Polizeipräsidenten, die, nachdem sie ihren Chef heil zu Hause abgeliefert hatten, umkehrten und ein paar herumstehende Mädchen krankenhausreif schlugen. Und sauber gewaschene Bullen in Wannen mit fremden Schildern aus Kiel und Hannover, die sich großäugig im Schöneberger Schwulenviertel verirrten und darüber wunderten, daß die Ledertypen sie gar nicht hauen wollten, im Gegenteil.

»Gewalt ist, wo Polizei ist« und »Rebellion ist gerechtfertigt!« Das sind die ewigen Wahrheiten, die der 1. Mai gegen alle Vernebelungen immer wieder klärt.

Natürlich wünschte ich, wie alle Marxisten, die Straßenschlachten würden sich endlich, statt in den Armutsbezirken der Oranienstraße, um die Villen der kapitalistischen Hauptverdiener »abspielen«, etwa an den Tenniscourts der Korruptionselite am Hundekehle-Ufer, auf der Goebbels-/Springer-Insel Schwanenwerder, um die vergoldeten Schlösser der LBB-Bosse links vom S-Bahnhof Grunewald, oder gleich im Regierungsviertel und Johanniskiez in Mitte, wo Kriegstreiber Fischer sonntags joggt, unangegriffen. Aber das kommt schon noch. »Das macht der Reiche selber, daß der arme Mann ihm feynd wird«, befand Thomas Münzer vor 500 Jahren, und die Regierung tut derzeit alles, um die Unterschichten ins Elend zu drücken, sodaß wir gewaltigen Hungerdemonstrationen ums KaDeWe entgegensehen wie in den dreißiger Jahren. Linke Straßenschlachten in Kreuzberg sind nicht optimal, aber erstmal besser als gar keine.

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