Kreuzberger Chronik
Februar 2003 - Ausgabe 44

Strassen, Häuser, Höfe

Kreuzberger Ärzte (1):
Heimstraße



linie

von Werner von Westhafen

1pixgif
Drei Straßen in der Nähe des Urbankrankenhauses tragen die Namen berühmter Mediziner: Gräfe, Dieffenbach und Körte. In ihren strengen Gesichtern spiegelte sich der berufliche Ehrgeiz. Ernst Ludwig Heim dagegen sieht aus wie Heinz Rühmann in der Rolle des Pater Brown, der nach wiederholtem Rückfall ins Sündenreich mit verschmitztem Lächeln vor seinen Bischof treten muß.

Gerade geboren lag das schwächliche Kind »stumm und reglos in seinem Körbchen«, der Vater, ein ärmlicher Dorfpfarrer, vollzog eiligst die Nottaufe und reiste ins nächste Dorf, um einen Kollegen zu vertreten. Als Magister Heim heimkehrte, wunderte er sich, daß das Würmchen noch immer am Leben war. Die Fürsorge und Liebe der Mutter hatten ihm das Leben gerettet. Auch Scharlach und Pocken konnten später das Kind mit dem hartnäckigen Überlebenswillen nicht umbringen, jedoch blieb es stets hinter seinen Geschwistern zurück. Noch als Zwölfjähriger konnte Ernst Ludwig nicht richtig lesen und schreiben, weder die strafenden Predigten noch die tägliche Prügel halfen dem eigensinnigen Kind. Was also, fragte sich der Vater, sollte aus dem Mißratenen werden? Zum Lehrer, zum Anwalt, zum Notar taugte er nicht. »Bestenfalls zum einfachen Arzt schienen seine Geistesgaben gerade noch zu reichen!«

Ernst Ludwig war vierzehn Jahre alt, als seine Mutter an einer Lungenentzündung verstarb. Der Grund für den frühen Tod war die schlechte medizinische Versorgung. Schon ein einfacher Armbruch kostete 3 Thaler, ein Beinbruch oberhalb des Knies mindestens das Doppelte – Preise, die auch Familien mit einem durchschnittlichen Lebenseinkommen kaum zu zahlen vermochten. In Ernst Ludwig regte sich Widerstand und jenes Mitempfinden, von dem er Jahre später sagte, es sei »das tiefste Motiv für seine Wirksamkeit«. Heim beschloß, als praktischer Arzt gegen das menschliche Elend anzukämpfen.

Doch der Vater blieb skeptisch. Sehr ernst schien es dem Ernst nicht zu sein mit dem Beruf. Zwar betonte der Student in seinen Briefen immer wieder die Fortschritte, die er mache, doch genoß er offensichtlich auch die Freuden des Studentendaseins in vollen Zügen. Als Ernst seinem Vater schrieb, er brauche dringend dreißig Thaler extra, da man ihn des Tabakkaufs bei einem Schwarzhändler überführt hatte, schrieb der Vater: »Du bist von Jugend auf ein leichtsinniger und liederlicher Mensch gewesen, und wie man sonst hört, ist Deine Haushaltung sehr unordentlich.« Auch sein Bruder Ludwig zog mit ihm ins Gericht und schrieb, er müsse seine »natürliche Flüchtigkeit« mäßigen. Denn »solange Du noch auf Univer-sitäten bist, wirst Du schon durchkommen.« Aber wer wolle sein Leben einem Arzt anvertrauen, der »so viele leere und luftige Gedanken« habe.

Ernst wurde einen Moment lang nachdenklich: »Ich kann, liebster Bruder, nicht ganz leugnen, daß ich zuweilen etwas leichtsinnig bin.« Doch schon wenige Wochen später schreibt er über seine wachsenden Schulden: »Wer kann es ändern, wir können nichts anderes tun, als dergleichen noch mehr machen!«, und beendet den Brief an den Bruder mit den Worten: »Kannst Du in den Ferien zu mir kommen, so soll es mich sehr erfreuen. Bringe nur einen recht vollen Geldbeutel mit!«

Von allen Seiten redet man nun auf den Studenten ein, er müsse an die Zukunft denken. Doch Heim läßt sich nicht beunruhigen. »So verdrießlich auch mancher sein würde, der sich in meinen Umständen befände, so bin ich doch immer vergnügt und schlage alle Sorgen in den Wind.« Die Brüder raten indes zu einer günstigen Heirat, organisieren eine Stelle für ihn in Aschersleben. Doch Heim schreibt: »Ich bin ein hübscher Junge, wenigstens sagen das die Leute; und wenn ich durch eine Frau mein Glück machen will, so habe ich noch Zeit dazu. Unterdes lebe ich kreuzfidel und studiere, was das Zeug hält.« Auch die Stelle lehnt er ab, da er nicht durch »unlautere Mittel zum Physikat« werden wolle.

In Halle allerdings macht der Student ganz anders von sich reden. Um seine finanzielle Not zu lindern, zieht er an den Wochenenden in die umliegenden Dörfer und bietet seine Dienste gegen Naturalien an. Heim steht schon bald in dem Ruf, ein außergewöhnliches Talent im Heilen zu besitzen. Man erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der seit Monaten an einer Magenverstimmung litt, und dem man zu seinem Leidwesen sowohl das Reiten als auch den Wein verboten hatte. Heim riet dem Kranken, zwei Liter Roten zu trinken, sich aufs Pferd zu setzen und stundenlang zu galoppieren. Die von Heim verordnete Roßkur soll geholfen haben.

Und was im heimischen Solz niemand mehr für möglich gehalten hatte: Am 15. April 1772 reicht Heim seine Dissertation ein und erhält den Doktortitel. Die Professoren raten dem begabten Studenten, die akademische Laufbahn zu verfolgen, doch Heim lehnt ab. Er möchte praktizieren. Aber anstatt nun, wie es die Brüder gerne gesehen hätten, zur Tat zu schreiten, begibt sich Heim erst einmal auf die verdiente »Studienreise«. Gemeinsam mit seinem Freund Muetzel fährt er in den Harz, schlägt sich in einer Kutsche mit einem Mitreisenden, der sich über den ständigen Tabakqualm des passionierten Rauchers erregt, kommt nach England, Holland und Luxemburg. Er erklettert die Kirchturmspitze des Straßburger Münsters und turnt in 144 Metern Höhe unter dem Beifall halb Straßburgs auf dem Querbalken des Kirchenkreuzes herum, um eine Wette zu gewinnen. Und landet am Ende in Spandau bei Berlin – wo die Stelle des Stadtphysikus freigeworden ist.

Heim hat seine eigene Praxis. Doch die finanziellen Sorgen hatten damit kein Ende, da der junge Arzt seine Patienten nicht selten umsonst behandelte und Arzneien aus eigener Tasche bezahlte. Seine erste Anschaffung war ein Pferd, mit dem er die Kranken besuchen konnte. Ein ungezähmter, billiger Gaul, der noch nach Jahren »beim Aufsitzen steil in die Höhe stieg und wie rasend davongaloppierte«. Heim ist ein ruhe-loser Arzt, 784 Krankenbesuche hat er in seiner Patientenkartei aus dem Jahr 1782 verbucht. Abends raucht der passionierte Junggeselle und spielt Karten. Bis er eines Tages doch ein Mädchen sieht, das »so recht nach seinem Sinn« ist. Gerade 15 Jahre ist sie alt, »fromm, fleißig, geschickt, spricht von niemandem übel, ist nicht gelehrt, hat einen gesunden Körper und vollen Busen«. Der altgewordene Junggeselle wird Familienvater.

Doch als Arzt bleibt er unermüdlich. Er bemüht sich, die ländliche Bevölkerung aufzuklären, mahnt zur Hygiene, rät den Bauern, verendetes Vieh zu vergraben, kümmert sich um Kühe, Kinder, Alte und Junge. Besonders den Pocken, denen er selbst beinahe zum Opfer gefallen wäre, hat Heim den Kampf angesagt. Mit dem Mikroskop ist er den lebenden Krankheitserregern auf der Spur – hundert Jahre vor Robert Koch. Doch der Durchbruch gelingt einem Engländer: Edward Jenner entwickelt 1798 die Pockenschutzimpfung. Heim ist begeistert und beginnt allen Warnungen der reaktionären Kritiker aus den akademischen Reihen zum Trotz mit Impfungen. Und rettet Leben.

Die Familie ist nach Berlin gezogen, Heim ein angesehener Mann, er trägt den Titel des Geheimrats. Ein Akademiker aber ist er nie geworden. Noch im Alter von 81 Jahren reitet er auf seinem wilden Pferd zu den Patienten, mit 84 Jahren kämpft er an vorderster Front gegen die Cholera, erst mit 87 Jahren stirbt er. Am 18. September 1834 folgen Tausende dem Trauergeleit von der Kronenstraße zum Friedhof am Halleschen Tor.



zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg