Kreuzberger Chronik
Februar 2003 - Ausgabe 44

Essen, Trinken, Rauchen

Im Gerstensack


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von Joachim Unsold

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»Setzen wir uns hier hin!«, meinte die fast schon in die Jahre gekommene Lehrerin. »Hier ist es doch ganz schön!« Die älteren Herrschaften, wahrscheinlich die Existenzgründer der Lehrerin, standen jedoch noch zögernd an dem Tisch und unternahmen keine Anstalten, sich zu setzen. Als gebürtige Hessen, von Natur aus kontaktscheu und stets auf Distanz bedacht, konnten sie sich nicht für den Platz gleich neben dem jungen Paar, das tuschelte und die Köpfe zusammensteckte, entscheiden. Also ging Mutter gleich wieder ein paar Schritte zurück in den nächsten Raum, wo noch niemand saß. Doch die Lehrerin beharrte auf einem Tisch im Kaminzimmer.
»Ach Mudder«, sagte plötzlich der Vater, »komm, setze wir uns ewe do hin. Wenns drauße scho so schö schnoit, do is doch so a Feuersche im Kamin grod des Richtge!«

Einen Moment lang herrschte Stille, nur der Mann der Lehrerin seufzte und das Feuer knisterte ein bißchen. Endlich sprach die Mutter jene Worte, die alle sichtlich erleichterten und die Familie endlich Platz nehmen ließ: »Naja, ist ja schon witzig, was! Da kommt man nach dem Urlaub im Schwarzwald nach Berlin, und im Schwarzwald sprießen die Blumen, dabei hat’s hier 12 Grad Minus und alles ist weiß!«

»Ja, und in der Tür haben sie das Holz so akkurat gestapelt wie auf dem Bauernhof!«, ergänzte die Tochter und schob die goldene Brille zurecht. »Da könnten meine Kids ja noch was lernen!« Der Wirt kam, legte ein Holzscheit auf die Glut und reichte die Speisekarten.
»Und ich docht scho, hier gäbs nur son alternativen Körnerkram. Dieweil das hier Gerstensack heißt«, meinte der Vater.
»Das ist ja schwäbisch!«, rief die Mutter. »Maultaschen, Linsen mit Spätzle, Hirsch mit Schupfnudeln. Das ist doch schwäbisch! Ich dachte, in Kreuzberg gäb’s nur solche In-Lokale mit lauter exotischem Kram …«
»In Kreuzberg gibt’s alles!«, verkündete stolz die Tochter, und Vater nickte: »No siehste, Mudder, die Gertrud weiß ewe, wo Sie uns hinführe tut. Die is jo nu scho long genug do!«
»Aber ihr wart noch nicht ein einziges Mal in Berlin!«, meinte mit erhobenem Zeigefinger die Lehrerin. »Obwohl ich Euch ständig eingeladen habe!« Die Mutter überhörte das, schien sich intensiv in die Speisekarte zu vertiefen, verkündete aber schon kurz darauf: »Ich nehm einen Krustenbraten mit Wirsing! Und dazu trink ich ein Bier!«
»Ich nehm Grünkohl mit Wildknackern!«, entschied der Vater. Mutter schüttelte den Kopf, fügte aber hinzu: »Naja, so gut, wie das hier nach Holz riecht, da schmeckt einem ja alles! Wenn man sich nur nicht dieses Knutschpaar dauernd ansehen müßte!« Der schweigsame Schwiegersohn wählte Allgäuer Käsespätzle, die Tochter ein Stück vom Hirschkalb. Der Wirt kam, schürte das Feuer im Kamin, bis die Funken stieben, und trat mit leichter Verbeugung an den Tisch. »Die Herrschaften haben gewählt?«

Jetzt betraten andere Gäste das Kaminzimmer, hängten ihre Schals über die Stühle, die Hessen waren plötzlich von Berlinern umzingelt. Die Einheimischen waren lauter als die Hessen, nur das Pärchen am Nachbartisch küßte sich unentwegt. Also wurden auch die braven Hessen im schwäbischen Lokal allmählich etwas lauter und etwas lustiger, und als plötzlich, aus einem unerfindlichen Grund, alle Berliner gleichzeitig schwiegen, hörte man nur noch diesen fremdartigen Dialekt im Raum. Das Liebespaar unterbrach den Kuß und begann zu kichern: »Kommen Sie etwa aus Hessen? Wir nämlich auch!« – Wenig später sprachen alle Versammelten im Kaminzimmer über das entlegene Bundesland, Vater und Mudder standen mit Freude Rede und Antwort, bis am Ende der Wirt kam, im Vorübergehen – eine seiner alten Gewohnheiten – das Feuer schürte und fragte, ob es geschmeckt habe. »Ach wissen Sie«, sagte Mutter und zwinkerte dem jungen Paar zu, »bei so einer netten Gesellschaft, die Sie hier haben, da kann es einem ja nur schmecken!«
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