Kreuzberger Chronik
Dez. 2003/Jan. 2004 - Ausgabe 53

Die Geschichte

Und singt


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von Horst Zimmermann, Leiter con forza Kreuzberg

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Ein Freund erzählte einmal, daß sein Vater daheim eine Axt hatte, die 200 Jahre alt war. »Mal wurde der Stiel ausgewechselt und dann, nach fünfzig Jahren, die Klinge. Nach vielen weiteren Jahren wieder der Stiel«.

Über 300 Sängerinnen und Sänger sind im Lauf der vergangenen 20 Jahre über kurze oder längere Zeit Mitglieder eines 30-40 Personen starken Chores gewesen, der sich »con forza Kreuzberg« nennt. Allesamt waren sie Laien, die Spaß daran hatten, anders zu singen als ein Kirchenchor.

con forza kreuzberg
con forza Kreuzberg in der Rosegger-Grundschule, 1993 Foto: Hans-Joachim Wuthenow


Die ersten Jahre: Eine Zeit des schlechten Schlafens, weil ein Atomkrieg durch Aufrüstung der Nato scheinbar unausweichlich war. Eine Zeit der großen Demonstrationen gegen diese Schlaflosigkeit. Wer singt, fürchtet sich nicht. Con forza sang. Nicht nur die gängigen Lieder der Friedensbewegung: »Heho, leistet Widerstand!«. Wir konfrontierten das Publikum mit Liebesliedern aus der Renaissance, mit romantischen und modernen Kompositionen. Durch unsere Zusammenstellungen wurde aus einem Choral ein politisches Lied, aus einem Liebeslied ein Kampflied und umgekehrt. Das war die con-forza-Mischung, die auch dem Publikum aus Gewerkschaft, linken Parteien, Dogmatikern und Spontis erlaubte, Brahms und Mozart, Heinrich Schütz oder Orlando di Lasso Applaus zu spenden. Wir sangen in Sälen, in Kneipen und auf der Straße für Nicaragua, gegen Apartheid, gegen Obdachlosigkeit und Hunger. Eine fröhliche Ökumene vom Punk bis zum Herrn in Nadelstreifen war unser Publikum.

»In zehn Jahren singen wir im Kammermusiksaal«. Meine Ankündigung auf einer der ersten Proben im Kreuzberger Wasserturm erntete Gelächter von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer, aus denen der Chor damals bestand. Ich meinte es ernst. Viele haben die Zeit nicht abgewartet, sind aus dem einen oder anderen Grund gegangen. Andere sind gekommen, haben den Chor erneuert und verbessert, haben unermüdlich ihre Freizeit geopfert, um gestiegenen Ansprüchen gerecht zu werden, sind in den Ferien mit dem Chor nach »Westdeutschland« gefahren, um intensiv zu proben. 1990 kam dafür die Belohnung, eine Einladung nach Estland. Dort sangen wir im Saal der Estnischen Philharmonie. Und ein paar Jahre später: im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie.

Neben viel Harmonie gab es natürlich auch Streit: z. B. um das Repertoire. Dem einen zu schwer, dem anderen nicht anspruchsvoll genug, zu wenig politisch, zu politisch. Einmal mit dem IG-Metall-Vorsitzenden Pagels um das Mikrofon: Der Mann wollte uns am 1. Mai »Brüder, zur Sonne ý« verbieten. Pagels ging, con forza blieb. Und sang. Mit Veranstaltern wegen der meist miserablen Auftrittsbedingungen: Irgendwo auf einem LKW mit schlechten Mikros. Con forza sang. Viel später bei einer Aufführung der »Mutter« von Brecht/Eisler: Einzelne Mitglieder verweigern sich. Bei der Einstudierung von »carmina burana« von Carl Orff streikte unsere Pianistin. So einen Faschisten spielt sie nicht. Die Pianistin ging, con forza blieb. Und sang.

Die Zeit des schlechten Schlafens ist vorübergegangen. Con forza blieb. Und singt. Noch immer nicht wie ein Kirchenchor.

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