Kreuzberger Chronik
September 2002 - Ausgabe 40

Strassen, Häuser, Höfe

Lucinde (1):
Grimmstraße - Teil 1



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von Jürgen Jacobi

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Wenn Rapunzel, Rumpelstilzchen und Däumeling die Chiffren einer ausgedienten, altmodischen Kindererziehung sind, was ist dann an ihre Stelle getreten? Harry Potter, die Inkarnation des bebrillten Klassenprimus’? Frodo, der geschichtslose Nibelungen-Verschnitt? Oder gar Max Payne und Counter Strike?

Der Einfluß der Unterhaltungsmedien auf die Entwicklung Heranwachsender ist so vielschichtig wie undurchschaubar. Die Debatte über kausale Zusammenhänge ist eine Sammlung akademischer Sprechblasen. Zwar wurde die Gewalt in Märchen Anfang der 70er Jahre im Zuge reformierter Pädagogik an den Pranger gestellt, doch wurde nichts darüber bekannt, ob der übermäßige Konsum von Märchen jemals zu Amokläufen führte.

Die Geschehnisse in der Erfurter Gutenberg-Schule, wo ein sprachlos gewordenes Individuum das Töten als letzte Form der Mitteilung wählte, haben die Diskussion um Gewaltdarstellung neu entfacht. Eine andere Erfurter Schule, die viersprachige Brüder-Grimm-Grundschule, betont auf ihrer Internetseite das Erlernen von Fremdsprachen als Voraussetzung eines friedlichen Zusammenlebens im vereinten Europa.

An ein politisch geeintes Europa dürften die Brüder Grimm nicht einmal in ihren kühnsten Träumen gedacht haben. Sie wuchsen in einem Flickenteppich kleindeutscher Staaten auf, publizierten ein Wörterbuch und schrieben Märchen und Sagen auf. Für die Sprachwissenschaftler waren es Volks-Märchen, Mythen und Legenden, welche die sprachliche Klammer einer nur in Umrissen erkennbaren deutschen Nation bilden sollten.

Die Brüder Grimm werden als die zwei ersten von insgesamt sechs Geschwistern in Hanau geboren. Jacob am 4. Januar 1785, Wilhelm am 24. Februar 1786. Der Vater ist Jurist und Advokat, die Mutter entstammt ebenfalls einer Juristenfamilie. Während in Frankreich die Guillotine wütet, wachsen die Buben in sicheren Familienverhältnissen auf. Anfang 1796 jedoch stirbt der Vater im Alter von 45 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung.

In sicherem Satzaufbau, um den ihn heutige Abiturienten beneiden dürften, beschreibt der elfjährige Jacob Grimm das Leiden seines Vaters: »Die Entkräftung meines lieben Vaters ist sehr groß, das auch nicht zu verwundern ist, da ihm in wenigen Tagen fünfmal zur Ader gelassen und drei große Blasen auf die Brust gezogen worden sind. Die heftigsten Schmerzen vom Stich, die so bei jedem Atemzug empfunden, und da er in acht Tagen nichts als Medizin und dienliche Tränke zu sich genommen, haben ihm vollends seine Kräfte erschöpft, auch der Jammer über uns hat ihm sein Leiden vermehrt.«

Die sprachliche Sicherheit kommt nicht von ungefähr. Beide Eltern legen Wert auf umfassende Bildung. Als nach dem Tod des Vaters die beiden Brüder nur mit der finanziellen Hilfe einer Tante das Lyzeum in Kassel besuchen können, müssen sie zusätzlich zum Unterricht noch in den Nachmittagsstunden büffeln. Zehn bis elf Lernstunden am Tag sind keine Seltenheit. Jacob hat nach eigener Aussage »… von Jugend auf eine ungeduldige, anhaltende Lernbegierde« und ist bald »fast immer ein Primus«.

Der Zeit seines Lebens kränkelnde Wilhelm tut sich schwer. Nach einem Scharlachfieber klagt er über Schmerzen in der Brust. Er besucht den Unterricht jedoch weiter, wobei ihm der Weg zum Lyzeum nicht leicht fällt. Aber die Schinderei trägt bald Früchte. Beide gehen zum Jurastudium an die Universität in Marburg. Dort legt Wilhelm seine juristische Staatsprüfung ab.

1806 besetzt Napoleons Armee Hessen-Kassel. An die Stelle des geflohenen Kurfürsten Wilhelm I. setzt der kleine Franzose kurzerhand seinen Bruder Jérôme als König des neugegründeten Königreiches Westfalen. Der »lustige König« wiederum, wie er im Volksmund genannt wird, ernennt Jacob Grimm zum Leiter seiner Privatbibliothek. Als sich Jérôme nach der Völkerschlacht bei Leipzig nach Westen absetzt und das Kurfürstentum wiederhergestellt ist, wird Jacob Gesandtschaftssekretär, Wilhelm Bibliothekssekretär.

Während all dieser Jahre sind sie sprachwissenschaftlich aktiv. Ihre Studien gelten Dichtern des Mittelalters ebenso wie Aristoteles und Platon, den Engländern Walter Scott oder Shakespeare. 1812 veröffentlichen sie die berühmten Kinder- und Hausmärchen, nachdem sie sechs Jahre lang mündlich überlieferte Märchen gesammelt haben. Hauptquelle ist eine Bäuerin aus einem Dorf bei Kassel. Zur Frage, ob das Buch zur Kindererziehung nütze, vermerkt Wilhelm: »… da ich mir nichts ernährender, unschuldiger und erfrischender weiß für kindliche Kräfte und Natur.« Auch Kritik regt sich an dem Werk, in Wien wird der Nachdruck der Grimmschen Märchen verboten: Die Sammlung sei zu abergläubisch.

1829 tritt Jacob eine Stelle als Bibliothekar und Professor in Göttingen an. Wilhelm wird 1831 zum außerordentlichen Professor ernannt. Jacob hält seine erste Vorlesung in lateinischer Sprache über Altertum, grammatikalische Probleme, Literaturgeschichte und Urkundenlehre. Wilhelm, der poetischere Teil des Bruderpaares, widmet sich jahrelang einem Lehrgedicht namens »Bescheidenheit«, anhand dessen er die Welt des Mittelalters darzustellen hofft.

1837 stirbt Wilhelm IV., König von Großbritannien und Hannover. Unter seiner Herrschaft ist ein Grundgesetz erlassen worden, in dem Volksvertreter ein Mitspracherecht genossen, doch seinen Bruder und Nachfolger Ernst August kümmert die Verfassung wenig. Er schickt die Ständevertreter kurzerhand nach Hause und verlangt von den Göttinger Professoren eine Loyalitätsgeste. Ein Häuflein von sieben aufrechten Professoren, darunter auch die Brüder Grimm, unterzeichnen einen öffentlichen Protest gegen den Verfassungsbruch. Ernst August schert sich einen Teufel darum und entläßt die Professoren. Drei von ihnen, darunter Jacob, müssen innerhalb von drei Tagen Göttingen verlassen. Über Nacht werden die »Göttinger Sieben« zum Symbol für den Kampf gegen Willkür und Unterdrückung.

Jacob und Wilhelm verlassen die Stadt und ziehen zu ihrem Bruder Ludwig Emil. Die wirtschaftliche Situation ist prekär, da gibt der Verleger Reimer den Auftrag zu einem deutschen Wörterbuch. Eine Aufgabe, die bis dahin noch keiner bewältigt hat, und die die Brüder bis an ihr Lebensende beschäftigen wird.


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