Kreuzberger Chronik
September 2002 - Ausgabe 40

Die Freizeit

Museumsbesuche (1) - das Spektrum


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von Joachim Jung

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Wer Kinder hat, sollte einige der berüchtigten Berliner Regentage mit ihnen im Deutschen Technikmuseum verbringen. Man sollte aber den Besuch des Hauptgebäudes und der Lokschuppen nicht an den Anfang stellen, denn dann dürften die Wißbegierde und Schaulust der Sprößlinge bald befriedigt sein, und sich die anderen Begierden – nach Pommes, Eis, Gummibärchen oder Fernsehen – Geltung verschaffen. Deshalb besuchen Sie bitte zuerst das Spectrum im Kopfbau des ehemaligen Anhalter Güterbahnhofs, das eine Sammlung naturwissenschaftlicher Versuche, Apparate und Kuriositäten beherbergt, die für Kinder etliche Überraschungen bereithält.

Der vielleicht schönste und aufregendste Apparat ist das rotierende Hexenhaus. Das Anstehen in der Schlange für dieses Erlebnis erster Güte in Sachen Sinnestäuschung lohnt sich. Nicht ums Gruseln vor einer bösen Hexe geht es, sondern um die Vortäuschung von eigener Bewegung. Es ist jene Art von Sinnestäuschung, die stattfindet, wenn man in einer Bahn sitzt, und auf dem Nachbargleis fährt ein Zug ab: Der Beobachter hat den Eindruck, sich selbst zu bewegen. Doch sitzt man weder in der Bahn, noch ist die Bewegungsrichtung horizontal, sondern man sitzt in einem Häuschen ohne Aussicht auf einer Bank, und das Häuschen beginnt zu rotieren … Achterbahnfahren könnte nicht besser sein.

Nachdem auf diese Weise der Gleichgewichtssinn der Besucher einigermaßen durcheinandergebracht wurde, können sie sich Zeit nehmen, das Foucault’sche Pendel im Erdgeschoß zu betrachten. Nicht erst seit Umberto Ecos gleichnamigem Roman weiß man, daß die Erde sich um ihre eigene Achse dreht. Der erste Vertreter dieser These war Galileo Galilei. Mit seinen Überlegungen zum heliozentrischen Weltbild, nach deren Veröffentlichung die katholische Kirche Galilei unter Androhung von Folter zum Widerruf zwang, wurde er zum Mitbegründer moderner Naturwissenschaft. Sein Schüler Vencencio Viviani unternahm 1661 erste Pendelversuche, um die Erddrehung nachzuweisen, doch erst durch die Experimente des französischen Physikers Jean Bernard Ahtanase Foucault, der sie dem französischen Kaiser Napoleon III. im Pariser Pantheon vorführte, wurde das Phänomen einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Das Pariser Urpendel ist 67 Meter lang und benötigt 16 Sekunden für die Schwingung von einem Extrempunkt zum anderen. Das Pendel im Berliner Spectrum ist keine 67 Meter lang, doch läßt sich auch hier schon die allmähliche Veränderung der Schwingungsrichtung feststellen. So wird die unsichtbare Drehung der Erde um ihre eigene Achse plötzlich sichtbar.

Im Blitz-Schatten-Raum dagegen wird die eigene Silhouette als Schatten an eine Wand projiziert. Eine spezielle Nachtleuchtfolie ermöglicht dies, indem sie die Körperkonturen für ein paar Sekunden fixiert. Irgendwo, glaubt der Besucher, hat er dies schon mal gesehen, in diversen Discos oder Expos. Scheint ein beliebter Versuch zu sein. Wer nichts für Schattenmänner übrig hat, sollte aber nicht sogleich den Bereich Sehen verlassen, sondern nebenan beim dortigen Rot-Grün-Test mal schauen, ob seine Augen vielleicht weit- oder kurzsichtig sind. Wer im roten Feld etwas schärfer sieht, könnte kurzsichtig sein, Grün schärfer bedeutet Weitsichtigkeit.

Das Spektrum ist kein Geheimtip mehr: Ganze Schulklassen kommen als Besucher, so zahlreich, daß man mittlerweile eine Anmeldepflicht für sie einführen mußte. Akzeptanz und Attraktivität des Spektrums beweisen über 300000 Besucher pro Jahr mit steigender Tendenz. So bleibt es dem Museum zu wünschen, daß es trotz der schwierigen Haushaltslage des Landes Berlin gelingt, seine erfolgreiche Arbeit fortzusetzen und termingerecht die Pforten des Neubaus im nächsten Jahr zu öffnen. <br>

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