Kreuzberger Chronik
Dez. 2002/Jan. 2003 - Ausgabe 43

Gerhard Kerfin Kreuzberger
Gerhard Kerfin, Dichter




linie

von Gabriele Bärtels

Fotos: Michael Hughes

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als
die singvögel
ausblieben

hockten sich
bauchredner
in die zweige

land und leute
bei laune
zu halten

doch
war es ihnen
strengstens untersagt
im herbst
davonzufliegen

Wenn Gerhard Kerfins Rente am Monatsanfang eintrifft, leistet er sich eine Schachtel Rothändle, einen Anis-Schnaps und ein Bier in einem ordentlichen Krug mit Henkel. Hohe, schlanke Gläser sind ihm zu zerbrechlich. In der Kneipe, die er für dieses monatlich wiederkehrende Fest besucht, kennt man ihn nicht, obwohl er den größten Teil seines Lebens in diesem Viertel verbracht hat, einen Sohn ins Leben entließ, seine Frau beerdigte, und eine lokale Größe war, die ihre literarische Leidenschaft nicht nur hinter der Schreibmaschine, sondern auch auf Lesebühnen auslebte. Gerhard Kerfin war nie ein einsamer Dichter, im Alter ist er es dann doch geworden.

Daß er trinkt, hat sich in seinem Gesicht niedergeschlagen. Gerhard Kerfin konnte sich nie entscheiden, ob seine Leidenschaft zum Bier oder seine Liebe zu Frauen größer war. Kerfin lächelt viel, er möchte eine angenehme, schöne Stimmung verbreiten. Man sieht sofort, daß er ein verletzlicher Mann ist. Schon 1971 stand in den Lübecker Nachrichten anläßlich einer seiner Lesungen: »… ungewöhnlich sensible Begabung, zart beschaffene Melancholie …« Noch früher, 1965, titelte die Berliner Morgenpost über einem Dreißig-Zeiler: »Seine Liebe gehört der Lyrik«, und etwas weiter unten: »Ein westdeutscher Verlag will jetzt die Werke von Gerhard Kerfin in größerer Auflage herausbringen.« Das ist nie geschehen, und er hat es doch immer gehofft.

Seit ein paar Jahren versucht er, dem kollektiven Gedächtnisverlust zu entkommen und noch einen Platz in der Nachwelt zu ergattern. Aber es sieht nicht so aus, als ob ihm das gelingen würde. Er bemüht sich verstärkt, vielleicht sogar verzweifelt, um Veröffentlichungen und Stipendien, aber gleichzeitig verkündet er illusionslos: »Man muß aus Moskau sein, um Geld für Kultur zu kriegen.« Dann richtet er sich auf, legt die Hand so dramatisch auf das Herz, als stünde er auf der Bühne eines Theaters: »Ich bin ein Dichter mit Herz und Seele.« Und »daß man mich nicht druckt, daß ich an den sozialen Rand gedrängt werde« – das hat ihn vielleicht ein wenig verbittert. Doch er macht weiter. »Ich bin eben Preuße.«

Gesamtausgabe
Ein erfolgloser Dichter ist er dennoch nicht. Wer über Jahrzehnte fast vierhundert Lesungen veranstaltet hat, muß ein Publikum gehabt haben. Und »es gibt wenige Dichter, die mit zwei Einkaufstüten eigener Bücher durch Berlin laufen können.«
Doch alle diese 17 Bücher sind im Eigenverlag erschienen, in Auflagen von nur 300 bis 500 Stück, und die meisten Exemplare sind nicht verkauft, sondern verschenkt worden. Sie sind numeriert, signiert, mit teilweise hervorragenden Holz- und Linolschnitten versehen, die allerersten Ausgaben noch handgeschrieben, in einer schönen Schrift, die von einer fleißigen Schülerin stammen könnte. »Bibliophile Kostbarkeiten« nennt Gerhard Kerfin sie und streicht mit der kräftigen Hand über die vergilbten Seiten. Alle zehn Minuten legt er ein neues Exemplar auf den Tisch, mit Titeln wie »Wer Wachtel liebt, fürchtet ihre Zungenfresser« oder »Wenn Menschensprache verdächtig klingt«, oder »Doch gering ist die Hoffnung". Ungewöhnliche Formate, schweres Papier, unaufgeschnittene Seiten, Hugo Hoffmanns Handpresse, Illustrationen von Mühlenhaupt und Arthur Märchen, – Namen aus der Kreuzberger Künstlerszene der Sechziger, in die er vor vierzig Jahren eintauchte.

Gerhard Kerfin hat diese Bücher mitgebracht, weil außer seinem Sohn noch niemand alle auf einmal gesehen hat, und weil das Interview mit der Chronistin eine der wenigen Chancen ist, einem Menschen und zugleich einem Vertreter der Öffentlichkeit sein Gesamtwerk zu zeigen. Er kann seine Gedichte aus dem Gedächtnis rezitieren und führt das auch gleich vor. »Du bist allein / Schweigen der Sterne umgibt Dein Haupt / …«

Gerhard Kerfin
Als Gerhard Kerfin 1956 nach Kreuzberg zog, war er einundzwanzig Jahre alt und auf dem Weg in die gehobene Beamtenlaufbahn. Er kam aus der Kleinstadt Nauen im Havelland, wo er als uneheliches Kind aufgewachsen war, erst mit viereinhalb Jahren das Laufen gelernt, drei Jahre in einem Kinderheim verbracht hatte und schießlich Betriebsschlosser wurde. Ab 1953 studierte er an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Rostock und trat 1958 die Inspektoren-Laufbahn in der Berliner Zollverwaltung an. Schon in Rostock hatte er angefangen, Gedichte zu schreiben – nicht viele, aber heimlich träumte er davon, daß wenigstens eines einmal in einer Zeitung stehen würde. Aber es sollte noch fünf Jahre dauern, bis er diesen geraden Weg knickte.

Kreuzberg ist klein, und Gerhard Kerfin fand fast zwangsläufig den Weg in den Leierkasten und die Kleine Weltlaterne, wo sich um 1960 die Künstler des Kiezes trafen. Es bedurfte der Freundschaft von Gleichgesinnten, die ihn endlich zum Abschied vom Beamtendasein überredeten und überzeugten: »Ich bin Schriftsteller. Ob man da jemals Bestätigung erfährt, weiß ich auch nicht. Aber ich würde genau dasselbe wieder machen – nur viel früher.«

Nicht erst mit dreißig, als er den Dienst beim Zoll endlich aufgab, um in Kurt Mühlenhaupts Trödelladen das »Faktotum« zu werden, wie er es ausdrückt. Seither hat er alle Jobs angenommen, die zum Klischee des armen Dichters gehören: In der Konfektion, in der Hutmacherei, als Gärtner, als Wächter, in der Rezeption – bis zur Rente war er Gelegenheits-Arbeiter, »arbeitete nach Bedarf«. Noch heute empfindet er keine Reue über den umgelenkten Lebensweg: »Ich hatte meine Bestimmung.« Und: »Da laut Statistik nur einer unter 10000 die Begabung zum Schriftsteller hat, war es in Nauen wohl ich.«

Gerhard Kerfin
»Ich bin ein Glückspilz«, sagt Gerhard Kerfin, auch wenn die Tränen ihm im Gesicht stehen. »Denn ich hatte nicht nur diese Freunde, sondern auch die richtige Frau gefunden.« Diese Frau war damals noch mit einem Beamten verheiratet und hatte zwei Kinder. Aber glücklich war sie nicht. »Ich habe sie erstmal nicht angefaßt, sondern ihr Gedichte vorgetragen und mit ihr getanzt. Wir sind am Landwehrkanal spazierengegangen, und sie hat sooo zugehört.« Er breitet die Arme aus.

Einunddreißig war er, als sie ihm das Jawort gab und mit Gerhard Kerfin in eine finanziell ungewisse Zukunft ging. Sechsundzwanzig Jahre lang war sie seine Kritikerin, bei jeder Lesung dabei, unterstützte ihn mit ihrem Erbe, so daß er die Bücher bezahlen konnte, die er mit seinen Freunden so liebevoll gestaltete. »Wir waren unzertrennlich.«

Gerhard Kerfin ist kein dichtender Einzelgänger, er war immer froh, wenn er aus der Schreibstube herauskam. Er interessierte sich für das Papier, für Schrift und Satz, und er suchte die Zusammenarbeit mit Illustratoren, las gemeinsam mit anderen. Als sich 1975 der Kreuzberger Künstler Kreis e.V. gründete, wurde er dessen stellvertretender Vorsitzender, betreute die Vereinsgalerie und war für die Medienarbeit verantwortlich. Zweimal las er aus seinen Gedichten sogar im Fernsehen. »Denn in den Siebzigern war der Kreuzberger Künstler Kreis weit über Kreuzberg hinaus bekannt. Die Welt hat mich wahrgenommen. Und es gab sogar Kritiken aus Westdeutschland.« Richtig verdient aber hat er nie mit seiner Dichtung. Ein einziges Stipendium in all den Jahren, 1981 in Schwalenberg, vom dortigen Institut für Landeskunde. Für Rundfunklesungen beim SFB erhielt er insgesamt 2000 Mark. Mit 500 Mark hat der Senat ihn gefördert. Das war’s schon fast.

Um große Verlage hat er sich früher nie bemüht. »Wenn ich die anderen mit ihren Lektoren da sitzen gesehen habe, dachte ich: Du willst unabhängig sein, Dir fummelt keiner rein. Meine Texte waren zum Anfassen. Man muß schließlich kein Akademiker sein und muß sich nicht in der Literatur auskennen, um zu schreiben.«

In all den Jahren verfaßte der Dichter Lyrik, kurze Prosa und kleine Satiren. Die Disziplin, einen 500-Seiten-Roman zu schreiben, hätte Gerhard Kerfin sich schon auch zugetraut, aber überwiegend blieb er beim Gedicht: »Ich bevorzuge es, in Rhythmen zu schreiben.« Kerfins Themen sind »Erinnerungen und Augenblicke«, und er gibt sich nur selten die Mühe, sie in eine klassische, lyrische, feste Form zu gießen. »Der Inhalt hat immer die Form bestimmt.« Hat er sich im Laufe der Zeit verbessert? »Man versucht, die Meßlatte zu halten. Jedenfalls habe ich immer mehr geschrieben.« Unter anderem eine Autobiographie über sechs Lebensjahrzehnte, »daran sind schon zwei Illustratoren gescheitert.«

Seine letzte Begegnung mit dem Trödelhändler und Maler Mühlenhaupt, der inzwischen ganz gut lebt von seiner Kunst, fand vor drei Jahren statt. Da sagte Kurt zu ihm: »Du mußt den Erfolg auch wollen.« Darüber hat Gerhard Kerfin nachgedacht: »Ich fand jede Art von Anerkennung immer wohltuend, aber daß ich Erfolg wollte … eigentlich erst, seit Kurt mir das gesagt hat.« Jetzt kümmert er sich intensiv um einen Verlag.

Von den neunundvierzig Leuten im Künstlerkreis, die sie einmal waren, sind vierzig in alle Winde verstreut und acht tot. Gerhard Kerfin war noch kürzlich auf einer Beerdigung. Mit den anderen steht er nicht mehr in Verbindung. 1991 ist seine Frau an Krebs gestorben und ein Jahr später ist er aus dem Fenster im zweiten Stock eines Altbaus gesprungen, und das war ziemlich hoch. Er fürchtete, die Wohnung nicht mehr halten zu können, und er hatte auch keine Kraft mehr, neue Texte zu schreiben; er wußte, daß er nie wieder so eine Gefährtin finden würde. Ein Dreivierteljahr verbrachte er im Krankenhaus und im Rollstuhl, ein halbes Jahr in der Psychiatrie. Laufen mußte er erst wieder lernen. Schreiben konnte er noch.

Gerhard Kerfin
Den letzten Gedichtband, den er auf eigene Kosten herstellte, hat er einem Paradies gewidmet, das er – für ein paar Urlaubslängen – in den letzten Jahren noch unverhofft gefunden hat: Bali und die Frauen, die ihn dort angelächelt haben. Sein größtes Glück ist eine Reise nach Bali. Aus seinem Indonesischen Tagebuch quellen Worte wie »anmutig, sternhell, Regenschauer, rote Blüten, junge, schöne Tempeltänzerin, lebhaftes Treiben.« Eine Lesung anläßlich dieser Veröffentlichung hat es nicht gegeben. Wegen des Bombenattentates in diesem Jahr überlegte Gerhard Kerfin, ein Nachwort hinzuzufügen, Überschrift: Die Hand des Todes, entschloß sich aber dagegen, denn er will die Erinnerung behalten, so wie sie ist.

»Wenn ich das Gefühl hätte, nur noch für die Schublade zu schreiben, könnte ich doch wieder springen«, sagt Gerhard Kerfin und trinkt sein Bier aus. »Ich bin ein einsamer Wolf geworden. Ich belle nicht. Ich jaule nicht.« Er trinkt auch den Schnaps aus: »Daß ich Leidensgenossen habe, denen es ähnlich geht, tröstet mich nicht.«

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