Kreuzberger Chronik
September 2001 - Ausgabe 30

Die Geschäfte

Die Schuhmacher (3):
Die Schuhmacher (3) - Ibrahim Contur



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von Jürgen Jacobi

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Es sind etwa 30 Grad in der Stadt. Wäre die Passage mit drängelnden Menschen gefüllt, könnte man sich in einem Bazar wähnen. Aber Ibrahim Conturs kleine Schuhmacherwerkstatt reiht sich nicht in eine Kette bunter Läden ein, sondern liegt ziemlich einsam in dem Durchgang zwischen NKZ und den davor liegenden Geschäften. Die allerdings drehen ihm den Rücken zu, und außer ein paar Junkies verirrt sich kaum jemand in die Passage. Wer also hierherkommt, der hat einen triftigen Grund. Sei es, daß er seiner Tochter einen zweiten Autoschlüssel zum bestandenen Abitur schenken will, oder im Rinnstein einen Absatz verloren hat.

In diesen Lebenslagen hilft Ibrahim. Angeblich in fünf Minuten, egal ob Schlüssel oder Schuhschnalle. Und da der Berliner – weiß der Teufel warum – keine Sekunde verlieren möchte, eilt er mit last minute zum One-Night-Stand und vom Fastfood zu Mister Minit. Dieser American way of life gerät spätestens bei Ibrahim ins Stocken. Denn nicht alles ist Mister Minit, was so aussieht. Und das ist gut so. Denn wer zu Ibrahim Contur kommt wird vielleicht länger bleiben, als er beabsichtigt hat, denn der Schuhmacher besitzt die Gabe der Rede.

Bei der enormen Hitze ist die Tür weit geöffnet. Der »Kundenbereich« ist durch zwei Tische deutlich von der Werkstatt getrennt. Kurioserweise dient sich ein Barhocker müden Körpern an. Ein Kunde wischt sich pausenlos die Stirn, der kleine Raum hallt wider von metallischen Hammerschlägen.

Da stürzt eine Blondine herein und streckt Ibrahim mit zwei Händen entgegen, was einmal zusammengehörte: Schuh und Absatz. Der Absatz hat in etwa die Höhe der Bordsteinkante in der Potsdamer Straße. Die Schmerzen der Trennung stehen der Dame ins Gesicht geschrieben und Eile tut not. Die Schwüle im Raum ist kaum noch auszuhalten, die Presse läßt Druckluft ab.

»Ich weiß nicht, welchen Beruf sie haben, aber mit diesen Schuhen müssen sie vorsichtig sein, nicht nach vorne abrollen und nicht nach vorne beugen.«
»Wie lange dauert das?« – kommt die Blonde schnell zum Punkt.
»Ich weiß, alles muß schnell gehen. Einmal kam einer mit Cowboystiefel, damals waren Cowboystiefel sehr in. Er kam her, meinte, ich bin seine Rettung. Ich sagte, okay, klar, warum nicht. Dann hab ich so angedeutet, ich hab immer so meinen Spruch hier: »Geht nicht« gibt’s nicht bei mir. Aber ich hatte die Schuhe noch nicht gesehen. Dann hat er die Schuhe ausgepackt, die Schuhe sooo weit abgelaufen an der Ferse, daß da ein riesen Loch war, vorne raus auch ein Loch, Brandsohle und so, komplette Ferse, die Stahlplatte war weg! Okay, da hab ich ein bißchen Angst gehabt vor dem Typen, der war ein bißchen angesoffen und weiß nicht, was er sagt. Ich dachte, der läßt die Stiefel machen und kommt vielleicht nicht mehr. Hab ihm gesagt, okay, daß das teuer wird, noch teurer als ein neuer Schuh, und daß er dafür neue Stiefel kaufen kann. Da hat er gesagt, ja, ich weiß, daß ich neue Stiefel kaufen kann. Und dann meinte er, wieviel, und ich hab so über den Daumen geschätzt, und er meinte, kein Problem.«

ibrahim contur
Foto: Wolfgang Krolow
Ibrahim unterbricht seine Erzählung plötzlich und lenkt das Interesse seiner beiden Zuhörer mit einer einzigen Kopfbewegung nach draußen. Der männliche Kunde geht seelenruhig hinaus und bedeutet einem Junkie, der gerade ein Fahrrad wegschieben will, daß er der Besitzer dieses Fahrrades sei und das Rad noch benötige. Die sanften Worte scheinen den Delinquenten schwer zu beeindrucken. Er schwankt leicht hin und her und trottet dann, einsichtig nickend, davon. Der Kunde legt seinem Drahtesel Ketten an und eilt in die Werkstatt zurück.

Die Blondine ist jetzt ungeduldig und bedrängt Ibrahim, endlich mit seiner Erzählung fortzufahren. Ibrahim fährt fort:
»Ich meinte, okay, ich will mehr als die Hälfte Anzahlung haben und die Stiefel würden so 400 DM kosten, okay, hat er gemacht, zeitlich war auch kein Problem, aber es war mein erster großer Auftrag, mein Vater war nicht da. Okay, hab ich gemacht und dann angerufen, kam er auch, ein bißchen besoffen, mein Vater war auch da. Und er hat die angeguckt und gesagt, hey, ich laß mich gerne nicht verarschen, und ich meinte, warum denn, und er meint, das sind nicht meine Schuhe!

Jetzt hab ich mir gedacht, entweder der Typ hat sich anders überlegt, weil er andere Stiefel billiger gefunden hat, oder er hat was anderes vor, oder er braucht Geld, will die Anzahlung zurück, weil er kein Geld mehr hat und die Schuhe hier lassen will … aber war nicht so …«

Die Blonde hat ihr Gewicht auf den Barhocker verlagert. Ihr langgestrecktes rechtes Bein hält kokett Kontakt zum Fußboden. Der männliche Kunde atmet jetzt hörbar.

»In seiner Vorstellung«, fährt Ibrahim fort, »konnte er gar nicht so weit denken, daß die Stiefel so gut werden, er hat sie gar nicht mehr erkannt, es war irgendwie so eine kleine Gesichtsoperation, sozusagen, eine kleine plastische Chirurgie … so ungefähr wie ein Arzt erklärt, wie man nach einer Operation aussehen wird, okay, und nach Narkose wacht der Patient auf und erkennt sich nicht mehr. Der Typ, verstehst du, seine Stiefel waren wie sein Gesicht, verstehst du …?!«

Die Blonde und der Kunde schauen sich zum ersten Mal direkt in die Augen.
»Und wie ging die Geschichte aus?«, fragt der Kunde.
»Hab ich ihm Stück für Stück erklärt, was ich gemacht habe, und gesagt, er soll die Stiefel anprobieren. Hat er auch gemacht und dann gesagt, ja, das sind meine Stiefel, sie tun noch immer an derselben Stelle weh.«

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