Kreuzberger Chronik
Juni 2001 - Ausgabe 28

Literatur

Die 4. Lange Buchnacht in der Oranienstraße«


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von Hans Korfmann

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Noch immer assoziiert man mit Büchern gemütliche Schaukelstühle vor dem heimischen Kamin und stille Stubenhocker mit Brillen auf der Nase. Daß die Literatur jedoch nicht nur Refugium im lauten Alltagsleben, nicht friedliche Insel im Chaos der Großstadt ist, demonstrieren die Kreuzberger Buchnächte. Selten zieht es so viele Besucher in die verrufene Demonstrationsmeile wie in der literarischen Sommernacht. Nur am 1. Mai, wenn Herr Werthebach wahre Menschenheere hier zusammentreibt, ist mehr Leben und Bewegung in der Oranienstraße.

Längst ist der abendliche Spaziergang durch Kneipen und Cafés, durch Buchhandlungen und im Hinterhof angesiedelte Verlage, eine der besonderen Attraktivitäten der Stadt geworden. Ein Fest – nicht von oben diktiert und organisiert, sondern von unten gewachsen. Eine Initiative jener, die hier leben und arbeiten.

Am 16. Juni drängen sich in den Buchhandlungen Leser und Zuhörer, keine Kneipe, in der nicht einer das Mikrofon und das Wort ergreifen würde. Schriftsteller und Dichter diskutieren und erzählen, man singt das Wort und man untermalt es, szenisch, graphisch, musikalisch. Die Verlage haben ihre Türen geöffnet und berichten über ihre Arbeit, und die Evangelische Kirchengemeinde St. Jacobi-Luisenstadt schlägt »Ein neues Kapitel im Buch der Kirchengeschichte auf« und berichtet über den »Ostarbeitereinsatz« auf kirchlichen Friedhöfen in Berlin zwischen 1942-1945.

Obwohl auch hier das Wort zum Verkauf ausliegt und es im Hof des Kreuzberg Museums einen Büchermarkt mit vermeintlichen Raritäten gibt – so wie die letzten Exemplare der »Kreuzberger Chronik« des 1. Jahrgangs – wird die O-Straße nicht zum verlängerten Verkaufsregal. Es geht um die komplette Welt des Buches, um die Entstehung und die vielfältige Verbreitung des geschriebenen Wortes. Nicht um das große Geschäft, im Gegenteil: »Hilfe, der Vertreter kommt!« – so der Titel einer Veranstaltung in der Buchhandlung »Dante Connection«, die den skurrilen Weg vom Manuskript zum Buch und vom Buch in die Auslagen beschreibt.

In Kreuzberg präsentieren sich nicht die großen, sondern die kleinen Verlage und literarischen Außenseiterprojekte. Der Frauenverlag Orlanda oder der Quer-Verlag tragen Erotisches zur Nacht bei. Liebhaberdruckereien wie Hugo Hoffmann und die Berliner Handpresse stellen ihre Projekte und verschiedene Drucktechniken vor. Zumindest »Klaus Wagenbachs Stimme« wird anwesend sein, wenn der Kinderbuchillustrator Axel Scheffler am frühen Nachmittag dem literarischen Nachwuchs Stifte und Papier in die Hand drückt, um Bilder zu den italienischen Geschichten »für große und kleine Kinder« zu malen. Im »oh 21« zeigt Harun Farocki seinen »Tag aus dem Leben der Endverbraucher« – einen Film, zusammengeschnitten aus bekannten Werbebildern. Im »Sunugaal« wird erst nachts um halb Eins das »Literarische Sondereinsatzkommando« aktiv und liest Texte von Morgenstern, Wedekind und Ringelnatz. Und um 1 Uhr betritt Rachelina mit ihren beschwichtigenden italienischen Serenaden die Szene und betört ihre Zuhörer mit Charme und Stimme. Das Wort nimmt viele Formen an in dieser Nacht – es gehört nicht mehr den Autoren allein. Vor allem gehört es keinen Fremden. Wer hier liest, ist in der Regel auch von hier.

Das »Anti-Quariat« hat um 16 Uhr drei Berliner »K«s in den »Goldenen Hahn« geladen: Kapielski, Krampitz und Kramer. Ein vierter K liest in der Bona Peiser Bibliothek: Wladimir Kaminer erzählt von der »Russendisko«. Im Kreuzberg Museum läßt es sich eine amerikanische Autorin nicht nehmen, etwas über ein Dorf in Brandenburg zu erzählen: »Was sagt das linke Knie zum rechten?«

Damit zeigt die Kreuzberger Buchnacht mehr als die größte Buchmesse der Welt: die Frankfurter Buchmesse. Denn sie zeigt nicht nur die Helden der Literatur: Autoren und Kritiker. Sie zeigt alle, die am Buch mitarbeiten. Im Hintergrund.

Ein Ausschnitt


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von Joachim Markquark

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Ich war gerade in Berlin angekommen und durchsuchte die Zeitungen nach einem Job. Da stieß ich auf die Anzeige des »Ausschnitts«, einer Agentur, die sämtliche Zeitungen und Magazine Deutschlands nach den Namen Ihrer neugierigen Kunden durchstöbert. Denn die Künstler, Politiker und Unternehmer möchten ja wissen, was man so schreibt über sie in der Welt. Weil sie jedoch keine Zeit hatten, beauftragten Sie den »Ausschnitt« mit dem Durchstöbern der Zeitungsartikel. Dort saßen dann Scharen sogenannter Lektoren, nur damit beschäftigt, die Namen einzelner Kunden herauszusuchen, und Hilfskräfte, die nichts anderes zu tun hatten, als die entdeckten Buchstaben aus dem Blätterwald zu schneiden.

Neben mir saß Gerrit, halblanges Haar, ordentlich gekleidet, zehn Jahre jünger und offensichtlich am Anfang einer Karriere. Konzentriert und gewissenhaft setzte er die Schere an. Er war gebildet, der angehende Mediziner, und das ließ er auch durchblicken. Indem er kaum sprach mit den einfachen Schneiderinnen im Raum. Aber er war mein Nachbar. Also bemühte ich mich, und nach zwei oder drei Tagen hatte ich ihn soweit, daß er gegen Mittag nach dem siebzigsten ausgeschnittenen Ausschnitt die Augen verdrehte und verschwörerisch zu mir herübergrinste. Das sollte heißen: Wir sind zu Höherem geboren.

Nach einer Woche trafen wir im Pausenraum aufeinander. Nach zähflüssigen Gesprächseinleitungen, die nach vier Sätzen steckenblieben, weil Gerrit zu der Sorte Mensch gehörte, die man um jedes Worte anbetteln mußte, nachdem ich ihm meine ganze Lebensgeschichte erzählt hatte, zu der er nie eine Frage hatte und immer nur nickte, als habe er das alles schon hundertmal gehört, und nachdem er immer nur gelächelt hatte, ohne den geheimnisvollen Grund seiner Freude zu verraten, setzte er plötzlich ein ernstes Gesicht auf. Ich hatte das Codewort gefunden: Schreiben.

Jetzt verstand ich, weshalb er Schweigen für Gold hielt. Reden war Blech für ihn. Schreiben alles. Ich erzählte also von einem Roman, an dem ich schriebe, aber bald schon war es wieder da: dieses ewige Lächeln. Gänzlich enttäuscht war ich, als er endlich erzählte, er wolle das Medizinstudium an den Nagel hängen, um Journalist zu werden. Ein simpler Journalist! Kein Dichter! Einer fürs alltägliche geistige Graubrot.

Immerhin wandte er nun manchmal das Wort an mich. Und als ich nach zwei Wochen endlich rausflog, weil ich die Papierschnipsel nicht ordentlich genug klebte, gab er mir die Hand und wünschte mir »viel Glück mit dem Roman«. Ich wünschte ihm ähnliches und verlieh der geringen Hoffnung Ausdruck, man würde sich ja vielleicht einmal wiedersehen.

Das geschah zwei Jahre später, im SO36. Ich arbeitete inzwischen auf der Baustelle. Ähnlich sah ich auch aus. Er blickte mich kurz an, nickte mir zu und ging weiter. Er hatte es sofort sofort erkannt: Ich war noch immer nicht in Besitz des Literatur-Nobelpreises. Das Konzert machte mir keinen Spaß mehr. Ich lief ziellos im »Esso« herum und hielt mich für einen Versager. Dementsprechend klein war ich, als ich den Mediziner später am Tresen wiederbegegnete: Er war das wandelnde Selbstbewußtsein. Eigentlich hätte ich ihm nur kurz zuzunicken brauchen, er hätte zurückgenickt und wäre seines Weges gegangen. Aber ich quatschte ihn an, entlockte ihm geduldig die gewichtigen Worte und erfuhr am Ende, daß er es geschafft hatte: Er arbeitete bei einer Tageszeitung. Dann verschwand er wieder im Gewühl. Die Zeiten beim »Ausschnitt« waren eben nur ein bedeutungsloser Ausschnitt gewesen für ihn. Für mich war er eine der ersten Begegnungen in Berlin.

Wieder ein paar Jahre später hatte ich ihn plötzlich am Telephon. Man hatte mich durchgestellt. Den Nobelpreis hatte ich vergessen. Ich war nun auch so ein mickriger Journalist. Ich erkannte seine Stimme sofort. Er meine nicht. Ich dutzte ihn trotzdem. Irgendwann fragte er: »Wer sind sie denn überhaupt?« – »Das ist doch vollkommen egal!«, sagte ich. Und verschwieg meinen Namen. Bis zum heutigen Tag. Obwohl wir öfter telefonieren. Langsam quält es ihn. Mich nicht. Im Gegenteil.

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