Kreuzberger Chronik
September 2017 - Ausgabe 192

Kreuzberger
Brigitte Nisse

So schwer war die Antwort nicht


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Holger Gross
Fotos:

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Sie sitzt vor dem alten Sekretär, den ihr der Vater einmal geschenkt hatte, und blättert in einem Ausstellungskatalog. Sie ist bescheiden geworden, hat nicht viel mitgenommen aus Münstertal, einen Stuhl, den Sekretär, einige Fotografien, die große, weiße Büste von Paul Nisse und die kleinen Skulpturen, die sie selbst aus Ton formt. Es ist nur ein kleines Zimmer jetzt, der Blick geht nicht mehr hinaus ins Grün des Gartens und über die sonnige Landschaft des Breisgau, sondern auf eine Häuserwand in der Fidicinstraße. Aber sie klagt nicht. Sie hat zu viel erlebt, sie weiß, dass das Leben nicht nur aus Sommerferien besteht. Ihre faltigen Hände erzählen das, auch wenn die Ringe an den Fingern und die rosa lackierten Fingernägel anderes suggerieren möchten. Auch der ernste Blick erzählt es und ihre noch immer stolze Haltung, auch wenn das Alter sie gebeugt hat. »Ich bin jetzt 95, da ist das doch ganz natürlich.«

Sie schaut aus dem Fenster und überlegt, wie das eigentlich alles gewesen ist. Wie sie hierher kam. Es hat lange gedauert. Kreuzberg war immer weit weg gewesen, von Zehlendorf und von der Fasanenstraße, wo sie wohnten. Einen ganzen Tag waren sie gelaufen von der Fasanenstraße bis nach Zehlendorf, der Vater die wunden Füße mit Stoffballen umwickelt, die Beine blutig, alle einen Koffer in der Hand. Auch Brigitte hatte ihren Koffer. Und nirgends gab es Wasser, die Leitungen waren zerstört, aus den Pumpen an der Straße kam kein Tropfen mehr. Sie haben »nie gehungert, aber das Wasser«, es gab ganze Tage ohne Wasser, weil sie immer die Leitungen bombardierten. Und dunkel war es, der Strom fiel aus. Vielleicht liebt sie deshalb die Sonne so. »Kommt, wir gehen nach Zehlendorf!«, hatte der Vater gesagt. »Da ist es zu grün, da werden die nicht bombardieren. Hier am Kurfürstendamm ist jede Bombe ein Treffer.«

Sie waren noch einmal mit dem Schrecken davon gekommen, die vierzig Bewohner des Hauses in der Fasanenstraße, die im notdürftig mit hölzernen Pfählen gestützten Keller gekauert hatten, als die Decke einstürzte. »Das schlimmste war die Luft. Wir bekamen keine Luft mehr. Also stürzten alle zu dem kleinen Kellerfenster, ich kann mich noch erinnern, wie ich meinen Eltern geholfen habe, sich da durchzuzwängen. Mein Vater war schon über sechzig. Ich war ja das Nesthäkchen, meine Geschwister fast schon erwachsen, als ich zur Welt kam. Ich war doch gar nicht mehr eingeplant gewesen.«

Wenn Brigitte Nisse von der Stadt erzählt, in der sie groß geworden ist, zu einer Zeit, in der »vor jeder Tür ein Wassereimer stand« und »die Koffer immer gepackt waren«, dann sind das nicht nur schöne Erinnerungen. Es sind furchtbare Ereignisse darunter, dunkle Kapitel. Und doch sind es auch diese Erinnerungen, die sie bewogen haben, aus dem hügeligen Süden Deutschlands zurückzukehren in dieses flache Berlin. Auch die schrecklichen Ereignisse verbinden sie mit dieser Stadt, haben Brigitte Nisse zu jener stolzen, eigenwilligen Dame gemacht, die sie heute ist.

Zu den deutlichsten, wenn auch dunkelsten Erinnerungen gehört jener Nachkriegsnachmittag, an dem die Russen kamen. Es war bei Tante Olga und Tante Lehnchen in Zehlendorf. »Die eine war überzeugte Christin, die andere fanatischer Nazi. Nicht mehr zu heilen!« Als die Russen an die Tür klopften, versteckte der Vater die Tochter auf dem Dachboden, wo sie zuhörte, wie sich die fremden Männer unten betranken. Der Vater trank mit ihnen, er hoffte, auf diese Weise das Unheil abwenden zu können. Aber es ließ sich nicht abwenden. Irgendwann stand dieser Russe hinter Brigitte, klopfte ihr auf die Schulter. Als sie später weinend im Wohnzimmer stand, wollte sich der Vater das Leben nehmen. »Nicht, tu das nicht!«, hörte Brigitte die Mutter schreien. Noch heute, wenn sie diese Worte wiederholt, so viele Jahre später, wird die Frau, die sonst so gewählt und überlegt spricht, plötzlich laut: »Nicht, tu das nicht!« Er wollte sich umbringen.

Der Herr Landrat Dr. Jur. Wilhelm Goelze hörte auf die Frau. Aber er wurde sein Leben lang nicht mehr glücklich. Er war siebzig Jahre alt, die Finger ganz gelb vom Rauchen und den Sorgen. »Er war ja PG gewesen, Parteigenosse. Sonst hätte er doch seinen Posten verloren. Die Wahl für einen wie ihn war damals: Weiter arbeiten und leben oder ins KZ gehen. Anders gesagt: Man hielt den Mund, oder man hatte den Kopf unter dem Arm. Da war die Entscheidung gar nicht so schwer!«

Aber es gibt auch schöne Erinnerungen an Berlin, frühere Erinnerungen. An die Privatschule zum Beispiel, wo sie nur zu neunt waren, sieben Schülerinnen und zwei sehr nette, jüdische Lehrerinnen. Als sie zur Aufnahmeprüfung im Lyceum antrat, war bei jeder Frage »mein Finger immer der erste, der oben war. Aber auf der Cecilienschule hat sich das schnell wieder gelegt, ich war einfach viel zu gerne faul.« Auch die Erinnerungen an die Gesellschaften, die im Haus des Vaters stattfanden, sind schöne, da waren »lauter gebildete Leute, viele Juden darunter. Wir hatten die besten Beziehungen zu den Juden!«

Foto: Holger Groß
Und dann die unvergesslichen Sommer an der Ostsee! Jedes Jahr waren sie dort, in der Sonne, am Meer, sechs Wochen, aber »es war das halbe Leben. Ich habe mich das ganze Jahr darauf gefreut.« Deep hieß der Ort, der für Brigitte Nisse das halbe Leben ausmachte, die bessere Hälfte des Lebens. Sie ist noch einmal dort gewesen, nach dem Krieg, »aber es war nicht mehr wie früher. Ich fahr auch nicht mehr hin.« Sie ist enttäuscht gewesen. Deep gab es nicht mehr, Deep hieß jetzt Mrzezyno. Der Krieg hatte alles zerstört, Berlin, Deep, den Vater, und die Menschen waren zu »Bestien« geworden. Wegen dieses Krieges hatte sie ihr Germanistikstudium abbrechen und als Zahnarzthelferin bei der SS anfangen müssen. Nicht einmal ihren Geburtstag konnte sie feiern, den 20. April. Weil der 20. April »auch der Geburtstag des Führers war, da mussten wir alle marschieren!«

»Wir müssen alles tun, damit es nie wieder Krieg gibt. Der Krieg macht Menschen zu Tieren. Von Moral keine Rede mehr.« Aber auch, als der Krieg vorbei war, konnte Brigitte Goelze nicht einfach weiter Germanistik studieren. Wieder wurde sie abkommandiert, diesmal zu den Trümmerfrauen. Bis der Vater sagte, sie solle doch mal zu Dr. Nisse in der Augsburger Straße gehen. Der könne vielleicht eine Bescheinigung ausstellen, dass sie als Zahnarzthelferin gebraucht werde. Da stand sie dann vor der Tür, schüchtern, in ihrem einzigen Kleid und in ihren einzigen Schuhen. Und Thilo Nisse sah sie verwundert an.

»Ich glaube, der hatte ganz vergessen, dass ich mich an diesem Tag bei ihm vorstellen sollte.« Thilo Nisse war der Sohn des Bildhauers Paul Nisse. »Der hat auf dem Marktplatz in Göttingen den Brunnen mit der Gänseliesel gebaut, das Wahrzeichen der Stadt«. Paul Nisse hat ihr imponiert. Vielleicht war er es, der sie dazu animierte, eines Tages mit dem Modellieren jener Figuren zu beginnen, die heute wie ein kleines Volk gebückter, sitzender, umherwandelnder, liegender, aber mit ihren gesenkten Köpfen immer nachdenklich wirkender Kreaturen auf dem Sekretär steht. Ihrem Mann Thilo hat sie ihre Karriere als Zahnarzthelferin zu verdanken. Thilo, dieser schöne Mann, den »die Frauen bewunderten«, der viel älter und noch verheiratet war an jenem Tag, als Brigitte plötzlich vor der Tür stand. Ein Mann, zu dem sie aufschauen musste, in den sie sich verlieben konnte. Sie blieben ein Leben zusammen, an seiner Seite verließ sie 1972 sogar ihre Heimatstadt. Es war Thilos Entschluss gewesen: »Wir müssen hier weg, auf die Dauer geht das nicht gut zwischen den Russen und den Amerikanern in Berlin.« Sie zogen nach Münstertal, eine sonnige Gegend nicht weit von Freiburg, mit Corinna und Jorinde, ihren beiden Töchtern, die keine Figuren modellieren, sondern Bilder restaurieren und auch beide eines Tages wieder zurückgegangen sind in die Trümmerstadt Berlin.

»Thilo ist schon vor einer ganzen Weile gestorben, er ist beinahe 100 geworden.« In ihrem kleinen Zimmer hängt eine Fotografie, auf der er dem sagenhaften Bergsteiger Luis Trenker ähnlich sieht. »Er wollte immer Vegetarier werden, aber da hab ich nicht mitgemacht. Ich liebe Fleisch. Und ich hab sie alle überlebt!« So blieben nur die Töchter, die nun alle Wochenenden im Zug verbrachten, um die Mutter im Breisgau zu besuchen. Jetzt sind sie in ihrer Nähe, manchmal holen sie die Mutter aus dem mit Vergangenheiten beladenen kleinen Zimmer ab und gehen mit ihr in das kleine Café in der Heimstraße und sitzen in der Sonne vor dem alten Kopfsteinpflaster. »Marmorkuchen! Ich habe Süßes immer geliebt.«

Brigitte Nisse braucht nicht viel. Sie ist bescheiden geworden. Damals, als sie aus der Fasanenstraße flüchteten, aus der großen Wohnung in das kleine Haus der Verwandten. Jetzt ist es noch ein bisschen enger geworden. Aber es steht kein Wassereimer mehr vor der Tür. Und der Koffer muss nicht immer gepackt sein. Nur die Sonne fehlt ihr manchmal. Wenn die Sonne scheint, dann ist es auch in Münstertal oder in Berlin ein bisschen wie in Deep. »Die sitzt bestimmt im Garten!«, sagen ihre Mitbewohner, »Die Sonne scheint doch!« Es gefällt ihr in diesem Haus der alten Leute. Sie hat es schließlich gelernt, sich zu fügen, das Leben hat ihr selten Spielraum für Entscheidungen gelassen. Nur dass das Zimmer nach Norden geht, das stört sie. »Aber ich kann mich gedulden. Hier wird ja auch gestorben. Irgendwann wird ein Zimmer nach Süden frei, und dann kann ich ja umziehen!« •




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