Kreuzberger Chronik
November 2017 - Ausgabe 194

Strassen, Häuser, Höfe

Das Tempelhofer Ufer


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von Werner von Westhafen

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Drei Tage lang trennt der Kanal Deutschland und Russland


Als 1820 der brackige Schafgraben entlang der alten Landwehrmauern ausgehoben und zum Schifffahrtskanal ausgebaut wurde, dachte noch niemand daran, dass die ungepflasterten Wege an seinen Ufern einmal zu breiten, mit Pflaster belegten Straßen im Herzen einer Weltstadt werden und dass einige seiner Brücken eine gewisse Berühmtheit erlangen würden.

Die am häufigsten fotografierte Brücke Berlins war womöglich weder die Schlossbrücke noch die Eisenbahnbrücke, die über die Friedrichstraße zu jenem Bahnhof führte, auf dem damals noch alle zwei Minuten ein Zug einfuhr. Die eigentlichen Symbole des Berliner »Großstadtwunders« waren am Tempelhofer Ufer in Kreuzberg, wo die Geleise der Hochbahn ganze Häuser durchquerten und hoch über den Strängen der Eisenbahnlinien schwebten. Eine der beliebtesten Postkarten zeigt die Brücken am Tempelhofer Ufer vor der Reichsbahndirektion, wo gleich vier Verkehrswege zusammentrafen: Unterirdisch und unsichtbar verliefen die Geleise der U7 unter dem Schifffahrtskanal, über den sich wiederum übereinander die Brücken der Anhalter Bahn und der Hochbahn schwangen. Eine echte Sensation.

Am 26. April 1945 wurde das viel bestaunte Großstadtwunder von den Soldaten der Wehrmacht gesprengt, um die russischen Truppen, die am Hermannplatz bereits das Karstadthaus in die Luft gejagt hatten und am Halleschen Tor vor dem Kanal Halt machten, aufzuhalten. Noch einmal wurde der Kanal zur letzten Verteidigungslinie der Berliner, die sich in den U-Bahnschächten und im Anhalter Bahnhof verschanzten. Die Bahnsteige und Schalterräume sollen Heerlagern geglichen haben, »in Nischen und auf Winkeln drängen sich Frauen und Kinder. Andere sitzen auf ihren Klappstühlen. Sie horchen auf den Lärm der Kämpfe. Die Einschläge erschüttern die Tunneldecke. Betonstücke brechen herab. Pulvergeruch und Rauchschwaden in den Schächten. Lazarettzüge der S-Bahn, die langsam weiterrollen«.

Drei Tage lang standen die feindlichen Panzer unschlüssig vor dem Wassergraben, erst am 29. April gelang es ihnen, am Halleschen Tor über die schwankenden Pontons und über die Trümmer der Möckernbrücke in die Innenstadt vorzudringen. Die Sprengung der Brücken hatte den Vormarsch nicht aufhalten können, doch die drei Tage hatten ausgereicht, um der Bevölkerung die Flucht zu ermöglichen.

Nicht fliehen konnte ein kleines Kind, das auf der Nordseite des Tempelhofer Ufers neben seiner toten Mutter gesessen haben soll. Ein russischer Soldat, so wird es noch heute von alten Kreuzbergern erzählt, habe es die ganze Nacht weinen gehört und nicht schlafen können. Er sei zu seinem Vorgesetzten gegangen und habe darum gebeten, den Kanal über die Trümmer zu Fuß überqueren zu dürfen, um das deutsche Kind zu retten, und der General habe genickt. Dieser Soldat und dieses Kind sollen, so die Kreuzberger Legende, das Vorbild gewesen sein für das sowjetische Ehrenmal, das später im Treptower Park errichtet wurde. Jenseits von Kreuzberg allerdings wurde diese Geschichte an die Ufer der Spree auf DDR-Territorium und in die Nähe der Potsdamer Brücke verlegt.

Nach der Zerstörung der Brücken war das Überqueren des Landwehrkanals am Tempelhofer Ufer nur noch mit kleinen Booten möglich, und wer noch einen Kahn hatte, richtete einen Fährbetrieb ein, um ein paar Pfennige zu verdienen. An der Möckernbrücke hatte man ein Drahtseil gespannt, an dem sich der Fährmann entlangziehen konnte. Noch heute sind die eisernen Anker sichtbar, die man in die Ufermauern eingelassen hatte, um das Seil zu spannen.

Erst 1954 wurde anstelle der alten Sandsteinbrücke die neue Möckernbrücke aus Beton eröffnet. Das eiserne Konstrukt der Hochbahnbrücke war bereits Mitte Mai 1945 wieder befahrbar. Die Brücke der Anhalter Bahn dagegen wurde nie mehr aufgebaut, ebenso wenig wie der geliebte und unter Denkmalschutz gestellte Anhalter Bahnhof, dessen Wände und Gleisanlagen noch komplett erhalten waren, und dessen Wiederaufbau eigentlich beschlossen war. Als die Kahlschlagregierungen Ende der Fünfzigerjahre dennoch den Abriss verkündeten, protestierte sogar die internationale Fachwelt, allerdings ohne Erfolg. Der riesige Anhalter Bahnhof schien unsinnig auf der Insel inmitten der DDR. Nachdem die Bagger einiger Abrissfirmen sich an den massiven Wänden die Zähne ausgebissen hatten und Konkurs anmelden mussten, wurde die Bahnhofshalle 1959 gesprengt. Auch das Eingangsportal des Bahnhofs sollte fallen, am Ende, so zumindest erzählen es die Kreuzberger, habe es am nötigen Dynamit gefehlt. In den Siebzigern waren es dann Bürgerproteste, die die Sprengung des Portikus verhinderten und dafür sorgten, dass zumindest noch eine Spur des legendären Bahnhofs erhalten ist. •


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