Kreuzberger Chronik
November 2017 - Ausgabe 194

Literatur

Der Weiße Affe


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von Kerstin Ehmer

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ls es hell wird und das Morgenlicht die stahlgenietete Hochbahn entlangfährt, schlurren die Hafenarbeiter zu den Spreeanlegern, schnaufen Kutschpferde in die Futtersäcke, wird in den Küchen krachend die Kaffeemühle gedreht, holpern Fahrräder und Handkarren übers Katzenkopfpflaster, schiebt die erste Lokomotive auf ihr Gleis im Görlitzer Bahnhof.

»Breslau einsteigen, Zug fährt ab«, brüllt der Bahnhofsvorsteher Wuhlke, wie immer ohne Bitte und Danke, die Reisenden zusammen. Um die Ecke hüpft seine Tochter Erika an der Hand ihres Bruders die Treppen zur Wrangelstraße runter.

»Fünf Pfennige, wenn du mir meine Zigaretten vom Dachboden im Hinterhaus holst.« Erika nickt erfreut und verschwindet nach hinten püber den ewig dunklen Hof, vorbei am Aschekasten, vorbei an der Teppichstange, an der sie manchmal Schweinebaumeln übt, vorbei an der Regentonne hinein ins Treppenhaus des Seitenflügels. Zwischen erstem und zweitem Stock ist die Tür zum Abort nur angelehnt und Erika hört den Morgenstrahl des Drahtziehers Moritz Winkhaus ins Klosett rauschen. Im Zweiten keift die Kaminke ihrem Mann hinterher, dass er sich bloß nicht unterstehen soll, nach der Schicht wieder beim Bier … Dann ist die Stiegestill, obwohl da einer gegen die Wand gelehnt sitzt und mit schwarzgewichsten Lederschuhen Erika den Weg versperrt. Mund steht offen, Augen starr geradeaus auf gar nichts. Das Mädchen steigt vorsichtig über die Beine mit den Bügelfalten und klopft im Dritten. »Fräulein Hilde, Ihr Besuch …«

Lehrter Bahnhof. Die Berlin-Hamburger-Bahn spuckt im Rauch der ächzenden Lokomotive den jungen Kriminalkommissar Ariel Spiro mit 52 Minuten Verspätung auf den überfüllten Bahnsteig. »Braucht der Herr Hilfe mit dem restlichen Gepäck?« Ein Riese in speckigem Anzug hat sich vor ihm aufgebaut. »Nein danke, ich hab nichts weiter.« Er weist kurz auf den Lederkoffer in seiner Hand. Er hat es eilig. Sein erster Arbeitstag und schon spät dran.
Der Riese zuckt die Achseln. »Na, ob Se damit weit kommen?« Er trollt weg.

»Zigaretten, Zigarren?« Da ist die Nächste, die was von ihm will. Hübsch und jung und wie zu einem Ausflug ins Grüne. Spiro schüttelt bedauernd den Kopf. Ganz schön kurz, die Haare, denkt er und sieht sich um. Eilig haben es hier plötzlich alle und rennen zielstrebig der Haupthalle entgegen. Spiro rennt mit. Wer hier gehört werden will, muss schreien. Lachen, Satzfetzen. Streichhölzer, Würstchen, Extra-blätter, alles lautstark angepriesen. Spiro muss raus aus diesem Lärm und auf dem schnellsten Weg ins Präsidium am Alexanderplatz. •

Der weiße Affe, von Kerstin Ehmer, Pendragon Verlag, 17,00 €, ISBN 978-3-86532-584-6


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