Kreuzberger Chronik
Mai 2017 - Ausgabe 189

Herr D.

Der Herr D. hat Alterserscheinungen


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. feierte Geburtstag. Am Tisch saßen ergraute Gratulanten und ewigblonde Damen. Er selbst hatte sein Haupthaar gänzlich verloren, aber das störte ihn wenig, auch die langhaarigsten Kreuzberger mit ihren Nostalgiefrisuren, die den frisch in Kreuzberg eingereisten Herrn D. einst mit ebenso großer Skepsis betrachtet hatten wie er sie, waren jetzt so kahl wie er. Um zehn drehte er die Musik leiser, damit die Kinder der neuen Spießbürger am Morgen in der Schule gut aufpassen konnten. Und um zwei, als die Frauen alle schon schliefen, debattierten die letzten vier Herren eine Stunde lang ungehemmt über Herzprobleme.

Dass auch er in die Jahre gekommen war, merkte der Herr D. daran, dass seine Geräuschempfindlichkeit zunahm. Zwar wäre er - im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen - nie auf die Idee gekommen, sich über lärmende Kinder auf Spielplätzen, betrunkene Raufbolde in Kneipen, klavierspielende Nachbarinnen oder gitarrespielende Jimi Hendrix-Fans zu echauffieren. Die Geräusche, die den Herrn D. ärgerten, waren keine biologischen, sondern Maschinengeräusche. Es waren die Motorsägen vom Friedhof, die hupenden Autos oder die Männer mit diesen umgekehrten Staubsaugern, die im Herbst das Laub durch die Stadt pusteten. Oder die kleinen Fahrzeuge der Straßenreinigung, die auf den Gehwegen patrouillierten und beim Aufsaugen des Drecks laut aufheulten wie Formel-1-Boliden.

»Ruhe da unten!«, brüllte der Herr D., der seinen Kaffee in der Frühlingssonne auf dem Balkon hatte trinken wollen und wegen des mororisierten Straßenfegers die Vögel nicht mehr hörte. Er wollte noch »Arschloch!« hinzufügen, da sah er die junge Nachbarin vom Balkon gegenüber. Sie war gerade eingezogen, wahrscheinlich hatte der Vater ihr eine Wohnung gekauft. Sie sah ihn an, und weil er sich plötzlich wie ein AfD-Wutbürger vorkam, winkte er freundlich zurück. Obwohl er die Neukreuzbergerinnen, die ihre Kinderwagen wie einen Rolls-Royce über die Straße schoben, eigentlich nicht mochte.

Als er später auf die Straße trat, stand die Neukreuzbergerin plötzlich vor ihm und sagte: »Da haben Sie vollkommen recht! Anstatt solche teuren, lauten, stinkenden Maschinen loszuschicken, sollten Sie lieber ein paar Männer mit Besen ausrüsten.« Der Herr D. war gerade dabei, sein Vorurteil gegenüber jungen Kreuzbergerinnen abzubauen, da sagte sie: »Ich schätze, vier salatessende Männer schaffen mehr als dieses benzinfressende Ungetüm. Flüchtlinge zum Beispiel, die verbrauchen kaum etwas. Dann wären die sogar zu etwas gut!«

»AfD?«, fragte der Herr D. Sie lachte und hüllte sich in Schweigen. Aber sie winkte seitdem ihrem vermeintlichen Parteigenossen jedes Mal verschwörisch zu, wenn er auf dem Balkon saß. Der Herr D. aber tat, als sehe er sie nicht. So wie alle in der Straße. •


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