Kreuzberger Chronik
November 2016 - Ausgabe 184

Kreuzberger
Gabriele Jäger

Irgendwo muss man ja hin mit seiner Wut


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Fast vierzig Jahre ist es her. Sie war gerade 16 geworden. Es war der Geburtstag des Stiefvaters, die ganze Familie saß im Wohnzimmer um den Tisch, als der Streit zwischen Tochter und Stiefvater eskalierte. Sie stand auf und schlug die Wohnzimmertür hinter sich zu, aber niemand folgte. Sie dachten, sie sei auf ihr Zimmer gegangen, aber sie ging zur Garderobe, griff nach dem Mantel und ihrer Tasche und fuhr zu Freunden in die Wiener Straße nach Kreuzberg. »Irgendwo muss man ja hin mit seiner Wut!« Es war ihre erste Nacht in Kreuzberg. Es sind Tausende daraus geworden. Sie ist nie ins Märkische Viertel zurückgekehrt. Mit dem Stiefvater hat sie kaum wieder ein Wort gewechselt, nicht einmal zu ihrer Hochzeit wollte er kommen. Auch mit der Mutter hat die Tochter seit zehn Jahren kein Wort mehr gesprochen. Sie weiß nicht, wie es ihr geht, sie weiß nur, dass sie noch lebt. Auch die Schwester und der Bruder haben den Kontakt zu den Eltern allmählich abgebrochen.


Dabei hatte alles so schön begonnen. »Ich hatte eine wunderbare Kindheit. Nie wieder bin ich so frei gewesen wie damals in Buckow.« Gabriele Jäger ist in der märkischen Schweiz groß geworden, »55 Kilometer von einer Haustür zur anderen«. Sie schlichen auf Trampelpfaden durchs Schilf vom Weißen See bis zum Schermützelsee, wo der Onkel in einem alten Bäderlokal, im Buchenfried, arbeitete. Sie trieb auf einem aufgeblasenen Traktor-Reifen auf dem See, lernte Schwimmen, ohne dass ein Erwachsener es gesehen hätte, »wir Kinder waren nie unter Aufsicht, wir konnten machen, was wir wollten.« Manchmal gingen sie mit dem Opa Walter in die Pilze, saßen auf dem Steg vor Helene Weigels Haus, die ihnen in einem Weidenkorb Rhabarbermost oder Fassbrause brachte. Während sie in der Sonne lagen, spielte Opa mit Helene und seinem Skatbruder aus dem Central-Hotel Karten. Im Dorf sagten sie, wenn man den Brecht neben den Walter stellen würde, dann sähen sie aus wie Brüder. »Vielleicht hat sie den Opa deshalb so gemocht... . Auf jeden Fall waren sie immer zusammen in den Pilzen. Helene Weigel war Österreicherin, sie liebte Pilze«, und Gabrieles Großvater kannte die besten Plätze.

»Es heißt immer, wir hätten nichts gehabt in der DDR, aber es war wunderbar: Es gab Tiere, Tabakfelder, Erdbeergärten und so romantische Streuobstwiesen, dass Brecht ihnen in seinen Buckower Elegien ein Denkmal setzen musste.« Es wurde Wein angebaut, überall blühte der Hopfen, sogar eine eigene Bauerei gab es im Dorf. Die Fassbrause war »die beste der Welt, die Sommer waren heiß, die Winter eisig kalt, und im See standen Hechte, Schleien, Aale, Rotfedern.«

Der Großvater ging nachts mit den Russen, die heimlich aus der Kaserne abhauten, angeln. Manchmal saßen sie im Wohnzimmer der Schmidts, die Fremden »mit dem Kommissbrot, dem Akkordeon, der Mundharmonika und dem Wodka.« Und mit den Streifen auf den Jacken. Nie wurden die Kinder hinausgewiesen, sie durften immer dabei sein, auch bei den Familienfesten, wenn die alten Geschichten erzählt wurden, Heldengeschichten, vom Großonkel, dem Berliner Straßenbahnfahrer, der Flugzettel drucken ließ gegen die NSDAP und sie während der Fahrt auf die Straße flattern ließ. Und von Onkel Andreas, der Parteigenossen und Juden vor den Nazis in Sicherheit brachte. Heldengeschichten, die sie beeindruckten. Die bis heute beeindrucken. »Das Haus meiner Großeltern hat mich geprägt. Ich habe gelernt, was Solidarität heißt. Die sozialistische Erziehung hat mir definfitv nicht geschadet.«, sagt Gabriele Jäger.

Obwohl auch sie schon früh ahnte, dass die Variante des DDR-Sozialismus auch ihre Schattenseiten hatte. Sie war keine zwei Jahre alt, ihr Bruder gerade drei, die junge Familie lebte noch in Schwerin, als der Vater seinen Job aufgab und kurz vor dem Mauerbau in den Westen flüchtete. Es war nicht irgendein Job gewesen, den der Vater aufgab, der Vater »hatte den Fuhrpark Walter Ulbrichts unter sich.« So zumindest formulierten es die Leute. Er hinterließ der Mutter einen Brief, erst viele Jahre später zeigte Tante Anni ihn der Enkelin. Er schrieb, er hoffe, sie würde mit den Kindern nachkommen. Falls sie das nicht tue, solle sie bitte vor den Kindern kein schlechtes Wort über ihn verlieren. Das tat sie nicht. 23 Jahre lang nicht. 23 Jahre lang hörte Gabriele gar nichts mehr von ihm. Bis er eines Tages, 1982, an der Wohnungstür klingelte. Irgendwo in Neuköln. Sie standen sich einen Moment schweigend gegenüber, dann fragte er: »Sind Sie Gabriele?« – »Ja. Und du bist mein Vater!« Es irritierte sie, als er erzählte, dass er seit Jahren in Berlin Urlaub mache, dass er sogar schon öfter in der Kneipe nebenan gewesen sei. Es fühlte sich an, als hätte er immer gewusst, wo sie war. Nur sie hatte nie gewusst, wo er war!

Auch diesen Vater hat Gabriele nicht oft wiedergesehen. Als sie selbst Mutter wurde, besuchte sie ihn im Saarland. Aber das Leben geht eben weiter. Manchmal so schnell, dass kaum Zeit bleibt, um zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Manchmal dauert es Jahre, bis man auf irgendeinem Balkon steht und in die Ferne blickt, und plötzlich zieht es da am Horizont der Gedanken wieder vorbei, das ganze Leben, klein und überschaubar wie ein Film. Und dann versteht man.

Gabrieles Mutter hatte nicht mehr über den Vater gesprochen, auch die Großeltern in Buckow, zu denen sie zogen, schwiegen über die Flucht des Abtrünnigen. Aber die Kinder brauchten einen Vater. »Wir waren die einzigen im Kindergarten, die keinen Vater hatten. Wir haben sogar den Busfahrer gefragt, ob er nicht unsere Mutter heiraten wolle.« Aber der wollte nicht. Obwohl die Mutter eine feine, gut gekleidete Frau war. Und obwohl die Mutter inzwischen einen wichtigen Posten innehatte: Sie unterrichtete, las Marx und Lenin und das Manifest in der »Sonderschule des Zentralrats der FDJ«, der Freien Deutschen Jugend. Dann am Rand von Buckow befand sich eine jener Eliteschulen der DDR, in denen sozialistische Parteifunktionäre für das sozialismusresistente Ausland ausgebildet wurden. »Heute ist da der Kneipp-Verein - und eine Spielwiese!« Gabriele Jäger lacht. Aber damals kamen dort junge Sozialisten aus aller Welt zusammen, von allen Kontinenten. »Da hab ich meinen ersten Afrikaner gesehen.« Sogar aus Westdeutschland reiste sozialistischer Nachwuchs an. Im Sommer des Jahres 1965 waren es gleich fünf, allesamt Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei. Und alle gingen nach dem Lehrjahr in der Märkischen Schweiz mit echt sozialistischen Frauen wieder in den Westen zurück. »Das war jedes Jahr das gleiche, keiner von denen ging unverheiratet nachhause.« Gabriele Jäger kann lachen darüber. »Und einer von denen hatte sich eben meine Mutter ausgesucht.« 1966, noch in Buckow, wurde Gabrieles Schwester geboren.

Fast fünfzig Jahre ist es her - »im nächsten Jahre feiere ich mein 50jähriges Berlinjubiläum« - da passierte Gabriele mit der Mutter, dem Bruder, dem neuen Vater und der neuen Schwester die Grenze nach West-Berlin. Sechs Jahre war sie nun alt, die Kindheit am See lag schnell weit hinter ihr, von der Freiheit blieb nichts übrig. Sie wohnten im Märkischen Viertel, das »ein bisschen so aussah wie die heimischen Plattenbauten«. Mit dem blauen Pionierhalstuch mussten sie zur Schule gehen, alle in Reinickendorf wussten, woher Gabriele und ihr Bruder kamen, »wir waren nur noch die roten Socken«. Auch später, auf dem Georg Herbig Gymnasium, wo die Tochter des SPD-Bürgermeisters die Tochter des neuen SEW-Kreisvoritzenden von Reinickendorf wie eine Verräterin behandelte, wurde Gabriele nicht glücklich. Zumal ihr der Vater verbot, die Schulfreunde zuhause zu besuchen oder zu sich einzuladen. Fremde Wohnungen waren tabu, ebenso wie das West-Fernsehen. »Mitten in West-Berlin!«

Die Ferien verbrachte Gabriele mit dem Pionierchor, dem Kinderchor der SED-W, wie die Sozialistische Einheitspartei Westberlins anfangs noch hieß. Sie fuhren an die Ostsee, auf die Krim, auch nach Paris. Gabriele traf junge Menschen aus der ganzen Welt, aber nie waren sie unbeaufsichtigt, immer waren die Mitarbeiter ihres Vaters um sie herum. Irgendwann wurde es der Tochter zu eng in dieser Welt zwischen Ostsee und Berlin, »ich lebte wie unter einer Glocke, ich musste da raus.« Sie schwänzte die Schule, besuchte die Schulfreunde heimlich, bekam Ärger mit dem Mathematiklehrer, »einem zurückgebliebenem Nazischwein«. Irgendwann warf sie ihm einen Stuhl vor die Füße und beendete ihre Karriere auf dem Reinickendorfer Gymnasium. »Irgendwo muss man ja hin mit seiner Wut!«

Gabriele Jäger verträgt keine Ungerechtigkeit. Es ist kein Zufall, dass sie in Kreuzberg heimisch geworden ist. In Kreuzberg war ihre Wut gut aufgehoben. Hier gab es Widerstand. Solidarität. »Es gibt sie heute noch.« In Kneipen wie dem Turandot mit dem »Sparverein« und dem Anno 64 mit der »Volksküche«. Da ist es manchmal noch wie in den Achtzigern mit den Vereinszimmern im Z, im Casa Leon, in der Taverna Athene. »Kreuzberg war voller Vereinszimmer für die SEW.« Gabriele Jäger kennt sie alle, Gabriele Jäger hat noch lange von der sozialistischen Einheit geträumt.Manchmal träumt sie heute noch davon. Sie hat diese Veranstaltung nie vergessen können, Ende der Sechzigerjahre, als sie diesem Mädchen aus Vietnam begegnete, eine der elf Überlebenden des Massakers von Son My. Als das Mädchen im Kinosaal ihre Geschichte erzählte, konnte Gabriele gar nicht anders, als ihr den Ring über den Finger zu streifen. Den Ring mit den roten Steinen. Tante Anni hatte ihr zum Andenken an den ersten, früh verlorenen Vater ein silbernes Zigarettenetui zugesteckt. Und einen Ring mit roten Steinen.

Sie verträgt keine Ungerechtigkeit. Bis heute nicht. In Reinickendorf hatte sie im Pionierchor gesungen, in Kreuzberg sang sie in einer Frauenband. Aber immer sang sie aus Protest. Sie war immer im Widerstand, stand vor dem Axel Springer-Haus, saß mit Gregor Gysi an einem Tisch, mit Jürgen Henschel, der sie für die Wahrheit fotografierte, am Lausitzer Platz auf dem so genannten »Befreiungsfest«, mit dem Sohn auf dem Arm. Sie stand im November 1989 beim Kita-Streik in der vordersten Reihe, stand beim Vater zweier ihrer Kita-Kinder vor der Haustür in der Fichtestraße, denn der Vater hieß Walter Momper und war der Bürgermeister von West-Berlin. Sie stand in der Solmsstraße und sperrte sie mit falschen Baustellenschildern ab, als die ersten Touristenbusse durch Kreuzberg rollten. Sie saß eine Nacht im Gefängnis, weil sie .... - »Irgendwo muss man ja hin mit seiner Wut!« Und in Kreuzberg war sie mit ihrer Wut nicht allein, in Kreuzberg fand sie Gleichgesinnte. Mitstreiter. Neue Genossinnen und Genossen. Alles schien gut zu sein.

Doch dann kam der 9. November. Gabriele Jäger hat das Datum in ihr Tagebuch eingetragen. Ein Tagebuch, das sich wie ein Roman liest. Sie hat immer Tagebuch geschrieben, so lange sie sich erinnern kann. Jeder Kinobesuch, jeder Kuss, jede Demo, jedes Konzert ist darin festgehalten. Vielleicht, weil sie ahnte, dass hinter dieser ganzen Geschichte noch irgendein Sinn stecken musste. Dass diese Notizen einmal wichtig sein könnten für sie.

Und, dann, am 9. November, »sitze ich vor dem Fernseher und sehe diese aufgerissenen Mäuler, die alle wie blöd in die Kamera rufen: Wahnsinn! Wahnsinn!« Auch Gabriele Jäger dachte: Wahnsinn! Und sie dachte daran, wie ihre Mutter beim hastigen Abschied 1885 in Marzahn plötzlich sagte: »Die Mauer wird nicht mehr lange stehen!«

Sie stand auf dem Balkon und alles zog vorüber: Schwerin, Buckow, das Märkische Viertel, Kreuzberg. Sie stand auf dem Balkon und sah, wie ihr Weltbild bröckelte. Ein Bild, das immer zwei Welten gezeigt hatte: Eine gute und eine schlechte. Eine schöne, und eine hässliche. Jetzt sollte das alles verschmelzen. Gabriele Jäger verlor den Halt. Sie schien zu stürzen, aber es war nur ein vorübergehender Schwindel. Doch es blieben Fragen zurück. Das Leben geht manchmal zu schnell, es bleibt kaum Zeit zum Nachdenken. Zum Verstehen. Zum Fragen. Sie hatte immer Fragen gestellt, vor vierzig Jahren schon, im Märkischen Viertel, da hatte sie dem Stiefvater schon diese Fragen gestellt. »Diese Fragen, die immer unbeantwortet bleiben.«

Fragen, die sie eines Tages mit sich zur Gauck-Behörde trug. Wo sie in einst geheimen Akten nachlesen konnte, dass sie nie wieder so frei gewesen war wie damals in Buckow. Dass es diese Glocke über dem Märkischen Viertel tatsächlich gegeben hatte. Dass es diesen Schatten tatsächlich gegeben hatte. Dass einer ihrer besten Freunde ein Spitzel gewesen war. Dass alle Briefe gelesen worden waren. Dass sie keinen Schritt alleine gemacht hatte. Mitten in West-Berlin.

Erst am 9. November 1989 enden die Eintragungen in ihrem Steckbrief. Die Akten ihrer Eltern hat Gabriele Jäger nicht mehr geöffnet. Wieder war es Tante Anni, die ihr eines Tages, irgendwann nach dem 9. November, sagte: »Dein Stiefvater hatte unterschrieben. Bei der Stasi. Deshalb durftet ihr 1967 auch von Buckow nach West-Berlin ausreisen.«

Jetzt verstand sie. Verstand ihre Geschichte. Weshalb die Eltern 1985 so überstürzt nach Ost-Berlin ausgereist waren, weshalb sie plötzlich ein Haus in Kaulsdorf hatten. Ihr Vater war ein Agent gewesen. Sie hatte es nicht bemerkt. •

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