Kreuzberger Chronik
Mai 2016 - Ausgabe 179

Strassen, Häuser, Höfe

Die Müllenhoffstraße


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von Werner von Westhafen

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Auf der Suche nach Sagen von der See und vom Schifferleben.

Am Mittage des 19. Februars hat der Tod einen großen Gelehrten vom rüstigen Schaffen abgerufen und der deutschen Philologie ihre Zierde und ihren Stolz geraubt. Uns aber, dem weiten Kreise dankbarer Schüler, ist der allverehrte Lehrer, Leiter und Freund entrissen worden, welcher mit wahrhaft väterlicher Liebe jeden einzelnen von uns auf seiner Laufbahn begleitete.

So schrieben die ehemaligen Studenten des Philologen, den man 1884 auf dem Friedhof an der Großgörschenstraße zu Grabe trug und in der Nähe der Gebrüder Grimm bestattete, die wie er von der Welt alter Sagen und Märchen fasziniert waren und es sich zur Aufgabe gemacht hatten, sie vor dem Vergessen zu bewahren. Mit Jacob und Wilhelm Grimm verband den Sagenforscher Müllenhoff nicht nur der gemeinsame Beruf, sondern auch die Passion und die Gewissenhaftigkeit, mit der sich Doktoren und Professoren auf die Suche nach den Überlieferungen des Volksmundes machten.

Von der Leidenschaft der Märchensammler zeugen nicht nur die sentimentalen Nachrufe der Schüler, sondern auch die hinterlassenen Schriften: »In Müllenhoffs Nachlass haben sich 12 Briefe der Brüder Grimm gefunden. Zehn derselben werden mit Erlaubnis der Frau Geheimrätin Fernande Müllenhoff zu Darmstadt unverkürzt« veröffentlicht, zwei von ihnen in der Deutschen Zeitschrift für Literatur nur zensiert publiziert, da »darin Urteile über noch Lebende vorkommen, welche verletzen können.«

Ansonsten geht es in der Korrespondenz der Philologen eher gesittet zu: »Sehr geehrter Herr Doktor« , schreibt Wilhelm Grimm nicht ganz uneigennützig im Dezember 1843 an seinen ehemaligen Berliner Studenten Müllenhoff, der in Kiel als Bibliothekar eine Anstellung gefunden hat. Der ehemalige Lehrer nimmt die Anstellung »mit Vergnügen« und »besonderer Theilname« zur Kenntnis, in den Bibliotheken sei schließlich »noch manches Schätzbare und der Nachwelt zu Erhaltende« zu entdecken. Wilhelm Grimm, der mit seinem Bruder an einer erweiterten Neuauflage der »Deutschen Sagen« arbeitet, hält das Angebot Müllenhoffs, der Neuausgabe die eine oder andere seiner Sagen von der See und vom Schifferleben beizusteuern, für einen »besonderen Gewinn.« Der Bruder Jacob sei »mitten in der Arbeit und es würde ihm daher sehr lieb sein, wenn Sie ihm Ihren Vorrat, auf kurze Zeit, gleich anvertrauen würden.«

Müllenhoff schickt seine Legendensammlung unverzüglich an die berühmten Herausgeber, und schon im Januar erhält er die Texte wieder zurück, nebst einem Brief von Jacob Grimm, in dem er dem »hochgeehrten Herrn Doktor« überschwänglichen Dank für »die bedeutsame Sage über den Weltuntergang« ausspricht. Aus reiner Bescheidenheit habe er sich »bloß um diese zu bitten gewagt« und keine der anderen Sagen verwendet. Erst einige Zeilen nach dieser höflichen Einleitung wird klar, dass ihm »jene Sage für das Buch gerade gelegen kam« , während die anderen doch eher unbrauchbar waren.

Immer wieder ist in den Briefen Wilhelm Grimms eine höfliche Herablassung spürbar, vor allem, wenn es um die Nibelungen geht, den Prüfstein aller Germanisten des 19. Jahrhunderts. Es ist, als wäre Grimm um die eigene Reputation besorgt, wenn er Müllenhoff, der das »Gudrunlied« auf seine Echtheit hin überprüfen und seinen Wandel im Lauf der Zeiten kenntlich machen möchte, davon abrät. Auch Grimm weiß, dass »viele Strophen unechte sind« , aber eine solche Prüfung sei eine undankbare und sehr »mühsame Arbeit« . Er selbst habe viele solcher Arbeiten begonnen und wieder zurückgelegt, in der Hoffnung darauf, »dass ältere und bessere Handschriften« auftauchen und die Arbeit erleichtern könnten. Als Karl Viktor Müllenhoff dennoch eine überarbeitete Veröffentlichung des Gudrunliedes anstrebt, in der er einige der Grimmschen Korrekturen übernehmen möchte, schreibt sein ehemaliger Lehrmeister: »Ich möchte allerdings das Eigenthumsrecht daran nicht verlieren, da ich eine eigene Ausgabe des Gedichts im Sinn habe.«

Grimm hätte sich nicht sorgen müssen. Müllenhoff war ein leidenschaftlicher, aber auch ein ehrenhafter Wissenschaftler. Der zweite Sohn des Kaufmanns Johann Anton Müllenhoff aus einem kleinen Ort namens Marne an der Nordseeküste, der eigentlich Seefahrer werden wollte, blieb dem Meer stets verbunden. Auf dem Gymnasium in Meldorf hörte er nicht nur phantastisches Seemanngarn, sondern las zum ersten Mal die Nibelungensage, über die er später mit Wilhelm Grimm noch Jahre lang korrespondieren sollte. 1837 ging er nach Kiel, um mit dem Studium der Philologie zu beginnen, 1839 kehrte er der »salzigen See« scheinbar endgültig den Rücken, um bis weit ins Landesinnere nach Leipzig und Berlin vorzudringen, wo er bei jenen Germanistik-Professoren in die Lehre ging, deren Namen ebenso wie der seine später auf den Straßenschildern Kreuzbergs zu finden sind: Lachmann, Ranke und Grimm.

So interessant das Leben für den jungen Mann vom Meer in Berlin auch gewesen sein mag: Er blieb nur zwei Jahre. Dann zog es ihn zurück in seine kleine Stadt am Meer. Es ging ihm wie seinem späteren Freund Theodor Storm, der schrieb: »Doch hängt mein ganzes Herz an dir / Du graue Stadt am Meer / Der Jugend Zauber für und für / Ruht lächelnd doch auf dir, / Du graue, graue Stadt am Meer.«

Am Meer schrieb Müllenhoff seine Doktorarbeit über die Theologie des Sophokles, an der Universität in Kiel unterrichtete er Deutsch, Literatur und Mythologie, und 1845 veröffentlichte er, ebenfalls in Kiel, sein erstes Werk, eine Sammlung nasskalter Sagen, Märchen und Lieder aus den Herzogtümern Schleswig, Holstein und Lauenburg, die er mit dem Historiker Theodor Mommsen und seinem Freund Theodor Storm zusammengestellt hatte. So war das Meer auch in der Schreibstube des Gelehrten allgegenwärtig.

Siebzehn Jahre nach seiner Heimkehr an die Nordseeküste aber berief man Müllenhoff als Professor an die Berliner Universität - ein Ruf, dem er nicht widerstehen konnte. 1864 wurde er als Nachfolger Jacob Grimms sogar in die Akademie der Wissenschaften gewählt. Er hatte endlich das Erbe seiner Lehrer angetreten. •


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