Kreuzberger Chronik
Mai 2016 - Ausgabe 179

Kreuzberger
Karl-Heinz Neizel

".... aber der is nu och schon verstorben..."


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Niemand sagt Karl-Heinz, alle sagen Kalle. Nur die Mutter sagte Heinerle zu ihm, wegen dieses Kinderliedes, Heinerele, Heinerle hat kein Geld... Das stimmte auch, Kalle besaß nie sonderlich viel Geld.

Kalle ist ein echter Kreuzberger, in Kreuzberg zur Welt gekommen, in der Müllenhoffstraße 17, »das war die Geburtsstation vom Urban« . Wer Müllenhoff war, interessiert Kalle nicht, aber Mölln, sagt er, war die Stadt von Till Eulenspiegel. Kalle liebt die Geschichten von Eulenspiegel, vielleicht, weil es im Leben von Kalle kaum lustige Streiche gab. Kalles Leben ist eine ernste Angelegenheit.

Kalles Leben ist jetzt 66 Jahre lang, aber viel ist nicht passiert seit dem 30. November 1949. Eigentlich hat er sein ganzes Leben immer nur in Kreuzberg verbracht. Wenn er die Augen ganz fest zusammenkneift, wie er das immer macht, wenn er etwas erinnern möchte, das schon weiter weg ist, dann fallen ihm nur die drei ganz großen Ereignisse in seinem Leben ein. Die sind schon sehr weit weg, aber wenn er dann die Augen wieder öffnet und zu erzählen beginnt, dann glänzen sie, als sei es gestern gewesen.

Seine erste Erinnerung stammt aus dem Jahre 1963. Da war er am Schöneberger Rathaus, und da hat John F. Kennedy diesen Satz gesprochen: Ich bin ein Berliner! »Das war das Größte!« Kalle fand es einfach ganz wunderbar, dass dieser große Amerikaner nichts anderes sein wollte als Kalle auch: einfach ein Berliner. »Aber der Kennedy is ja dann verstorben, der wurde am 22. November in Dallas erschossen. Das war das Ende vom Lied. Und die Berliner haben am Abend überall Kerzen in die Fenster gestellt.« Kalle hat diesen Abend nie vergessen.

Das zweite Großereignis im Leben von Karl-Heinz Neizel waren die beiden Reisen. Kalle ist nie bei den Nachbarn in Spanien, Italien oder England gewesen, aber zwei Mal war er mit seiner Mutter schon auf der anderen Seite der Erdkugel, bei Verwandten in Südafrika. 1969 und 1972 war das, und »da war das noch ein Abenteuer! Da war Robben Island noch gesperrt, wegen dem Nelson Mandela, den sie dort gefangen hielten. Jetzt ist das ne Touristenattraktion, jetzt kann da jeder hin. Aber der Nelson Mandela is ja leider ooch schon verstorb´n.«

Das dritte Großereignis fand 1982 statt. Kalle war alleine verreist. Er hatte beim ZDF für sechs Mark eine Eintrittskarte für Dalli Dalli gekauft und war mit dem Zug nach München gefahren, um Hans Rosenthal zu sehen. »Der Harald Juhnke war auch da!« München war vielleicht das größte Erlebnis in Kalles Leben, größer als Kennedy und Südafrika, denn als er zurückkam, erzählten sie, dass er im Fernsehen zu sehen gewesen war, ganz hinten, in der letzten Reihe.

Hans Rosenthal war Kalles Liebling, seit er wusste, welchen Knopf er beim Radio drücken musste, damit es anging. Kalle saß viel vor dem Radio und hörte Günter Neumanns Insulaner und die Rückblende oder die Quizsendung von Hans Rosenthal: Wer fragt, gewinnt. Seine Lieblingssendung hieß Allein gegen alle, vielleicht, weil ihn die ein bisschen an sich selbst erinnerte, weil Kalle auch immer gegen alle kämpfte, schon in der Schule fing das an, auf dem Hof der Rudolf Steiner Sonderschule, »da ham se mich immer verprügelt« . Nach sechs Jahren kam er dann auf die Erste Besondere Hilfsschule in der Gneisenaustraße Nummer 7, »da ging es dann ein bisschen besser.«

Kalle unterschied sich von den anderen in seinem Alter, und deshalb war er auch am liebsten zuhause. Vor allem, als sie dann auch einen Fernseher in der kleinen Wohnung in der Mittenwalder Straße hatten, in dem Haus, das dem Dr. Spengler gehörte, »aber der is leider ooch schon verstorben, in Garmisch Partenkirchen!« Seit Kalle und seine Mutter zum ersten Mal Dalli Dalli, »das Quiz für Schnelldenker« , gesehen hatten, ließen sie keine der 153 Sendungen aus. Manchmal war Kalle fast so schnell gewesen wie die Schnelldenker im Fernsehen, »obwohl das schon ganz schön schwer war« . Vor allem Namen und Jahreszahlen hat Kalle sich immer gut merken können. »Ick weeß noch, wie der die letzte Sendung machte, da war der schon krank, und am nächsten Tag ist er ins Krankenhaus gegangen, und dann ist er gestorben, 1987, in den Armen seiner Frau, ganz friedlich. Der wär jetzt schon 91! Und 2025 wär´ er 100 geworden.«

Später war Kalle noch in Süddeutschland, auf einem Bauernhof in Ruppertshofen bei Schwäbisch Gmünd, zusammen mit anderen Kreuzbergern, die er aus der Schule kannte. Sie hätten den Kalle gerne behalten, aber das Land, die Schweine, die harte Feldarbeit, das war nichts für den geborenen Großstädter. Kalle war eben ein echter Berliner. Kalle wollte zurück in die Mittenwalder Straße. Zu seiner Mutter.

Also ging er zurück in die Stadt und arbeitete als Transportarbeiter. Oder als Holzarbeiter im Reiterstadion. Oder er putzte für die BVG die Bahnhöfe. Einige Jahre verdingte er sich bei den städtischen Gärtnern für die Bezirke Schöneberg, Neukölln und Kreuzberg. »Das war ne Arbeit, die hat mir gefallen, und das hat mich jedes Mal tief geschmerzt, wenn ich nach einem Jahr wieder aufhören musste, weil der Bezirk die ABM-Kräfte dann doch nicht übernommen hat. Das Ende vom Lied war dann immer, dass ich arbeitslos war.«

So oft Kalle den Arbeitgeber wechselte, so treu blieb er dem Wohnsitz. Er wohnte bei seiner Mutter, 53 Jahre lang, in der Mittenwalder Straße, ging mit ihr Einkaufen und kam pünktlich abends um acht nachhause, wie immer schon. »Bei Dunkelheit musste ich zurück sein. Es wurden ja so viel Kinder umgebracht damals in Kreuzberg!«

An seinen Vater kann Kalle sich nicht erinnern, »ich bin ja ein uneheliches Kind!« Er kann die Augen noch so fest zusammenkneifen, er kann sich an dieses Gesicht nicht mehr erinnern, das nur ein einziges Mal auftauchte, als Kalle vier Jahre alt war. Der Vater! »Aber der is jetzt ooch schon verstorben, 1975 im Krankenhaus Waldfriede.« Der Mann, der eigentlich sein Vater hätte werden sollen, und den Liselotte Schultz-Neizel 1940 noch schnell geheiratet hatte, war leider nie mehr aus dem Krieg zurückgekommen. So lebten sie ohne Mann im Haus, Kalle und seine Mutter, 53 lange Jahre lang. Manchmal - »so ein Mal im Monat« - kam eine Freundin und holte die Mutter ab, um mit ihr ins Kino oder in die Oper zu gehen. »Ihr braucht euch keene Sorgen zu machen um mich!« , sagte Kalle, »Ick pass schon uff.«

Kalle und seine Mutter waren ein unzertrennliches Paar, bis dieser Tag im Sommer 2003 kam und sie stürzte. Kalle stützte sie, wenn sie einkaufen gingen, er kümmerte sich um die Mutter, so wie sie sich einst ums Heinerle gekümmert hatte. Er stellte einen Antrag, die Mutter zuhause pflegen zu dürfen. Aber der Antrag wurde abgelehnt. Kalle weiß nicht, warum, er versteht nicht, warum. »Sie haben nur gesagt, dass ich dafür nicht in Frage komme« . Wenn sie zusammen geblieben wären, sagt Kalle, »dann würde die heute noch leben!«

Aber sie kam in das Seniorenheim in die Fidicinstraße, in ein Zimmer mit Tür zum Garten, »das war wunderbar, bis der Bezirk das dann verkauft hat. Jetzt haben se det abgerissen und so einen Neubau hingesetzt, ganz schlimm is det, ohne Garten... Tja, und dann ist sie gestorben. Ich durfte nicht mehr zu ihr. Aber ich hab sie noch in der Pathologie gesehen, ganz friedlich ist sie gestorben, als ob sie schläft, die Hände vor der Brust gefaltet. Jetzt liegt sie auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof, gegenüber von dem Maler Adolph Menzel, genau gegenüber.«

Kalle geht nicht oft zum Friedhof. Der Berg ist steil für einen 100 -Kilo-Mann. Kalle ist »auch nicht mehr der Jüngste« , die Haare und der Bart sind weiß und struppig. Aber wenn man ihn nach dem Tod der Mutter fragt, dann kommt er sich manchmal noch vor wie ein kleines Kind, dann verdreht er die Augen und schaut zum Himmel und sucht nach einer Antwort und sagt dann: »Ick muss dir sagen: Wenn du nach dreiundfünfzig und einem viertel Jahr einen Menschen verlierst, mit dem du immer zusammen warst, dann merkst du das!«

Kalle verlor nicht nur die Mutter, sondern - »und das war dann das Ende vom Lied!« - auch sein Zuhause. Er kam in ein Obdachlosenheim in der Waldemarstraße. »Das Elend, das ich da geseh´n hab, das wünsch ich niemandem, auch meinem ärgsten Feind nicht!« Aber dann kam Ana Lichtwer, die Frau vom Büchertisch am Mehringdamm. Sie konnte einen kräftigen Mann wie Kalle gut gebrauchen, täglich muss-ten Kisten voller Bücher aus Wohnungen abgeholt, die Treppen hinunter getragen werden. Kalle half ihr mit den Büchern, und sie half ihm, eine kleine Einzimmerwohnung im Haus des Büchertisches zu finden, das Amt »genehmigte aus gesundheitlichen Gründen« . Und weil Kalle immer da war, erhielt er den Schlüssel für den Laden, den Schlüssel für den Keller, das Tor und die Büros. Kalle war stolz wie ein Hausmeister und brüllte die fremden Kinder zum Hof hinaus, wie nur Hausmeister das können. Alle, auch die Gäste der literarischen Abendveranstaltungen am Mehringdamm, kannten Kalle und grüßten Kalle, der abends am Tresen stand und Selters, Kaffee und Wein ausschenkte, der bei den Lesungen im Sofa saß und zuhörte. Und manchmal sogar einen Kommentar abgab. Das hätte niemand aus der Straßenfegertruppe der BVG für möglich gehalten.

Sein bester Freund war Reimar, Reimar Delley, ein ehemaliger Bertelsmann-Manager, der auch im Rentenalter nicht ohne den Geruch von Büchern leben konnte, und mit dem Kalle durch die halbe Stadt fuhr, immer auf der Spur der Literatur. Sieben Jahre lang waren sie zusammen auf ihrer Büchertour. Aber der Reimar, »der einzige, der immer pünktlich da war, der is leider ooch verstorb´n, am 28. April 2015. Der war 78! Das ist ne ganz schön lange Zeit, 78 Jahre.«

Das Leben von Kalle geht jetzt auch schon seit 66 Jahren. Aber viel ist nicht passiert seit dem 30. November 1949, an dem irgendetwas schief gelaufen sein muss. Gleich dreimal musste man das Kind operieren, Eiter im Gehirn absaugen, bis irgendwann in seinen Papieren etwas von einer »frühkindlichen Gehirnschädigung« stand.

Jetzt ist Kalle Rentner. Ein einsamer Berliner Rentner. Jetzt unterscheidet ihn nicht mehr viel von den anderen, den Gleichaltrigen, die Arbeit nicht, das Geld nicht, die Familie auch nicht. Wie so viele Alte murmelt er manchmal etwas vor sich hin, zwischen den kurzen, asthmatischen Atemstößen, wenn er den Berg zu seiner Mutter hinaufläuft, kurze, prägnante Sätze, denen keiner Beachtung schenkt, dennoch Sätze, die ihn ein Leben lang begleitet haben, und die sich wie eine Art Essenz auf dem Boden seiner Zeit angesammelt haben. Sätze wie »...und das ist dann das Ende vom Lied« oder »...der is nu ooch schon verstorb´n«. Oder »...die würde heute noch leben.« •



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