Kreuzberger Chronik
Juli 2016 - Ausgabe 181

Geschichten & Geschichte

Die Russen kommen


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von Werner von Westhafen

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Am 3. Oktober 1760 erschienen sie auf den Tempelhofer Bergen


Die Truppenübungen des Soldatenkönigs auf dem Tempelhofer Feld waren Schaukämpfe. Berlin hatten die Soldaten des Königs während seiner 27-jährigen Amtszeit nie verteidigen müssen, die auf 80.000 Soldaten angewachsene Garde kam erst nach seinem Tod zum Einsatz. Beide Auftritte waren weniger glücklich als die auf dem Tempelhofer Feld. Als sich die Österreicher 1757 vor dem Schlesischen Tor auf die Lauer legten, waren die preußischen Truppen gerade ausgeritten (vgl. Kreuzberger Nr. 139), und auch als drei Jahre später die Russen vor der Stadt kampierten, konnte die Armee keinen Sieg ins Geschichtsbuch eintragen lassen.

So wie zuvor die Österreicher, kamen auch die russischen Truppen vollkommen unerwartet. Unter General Tschernischew hatten sie Ende September Frankfurt an der Oder verlassen, um nach Berlin zu marschieren. »Am Freitagmorgen, den 3. Oktober 1760, wurden zur Überraschung der Berliner plötzlich die Stadttore geschlossen. Niemand durfte herein oder hinaus, und um 10 Uhr sah man Kosaken auf den Rollbergen.«

Die russischen Soldaten, deren Silhouetten so spukhaft auf den Tempelhofer Bergen auftauchten wie die der Indianer, hatten die Absicht, Berlin zu besetzen. Sie schienen sich ihrer Sache sicher zu sein und trafen ihre Vorbereitungen in aller Ruhe und Sachlichkeit. Erst am Nachmittag eröffneten sie von der Hasenheide und vom heutigen Kreuzberg aus mit »sechs Kanonen und einigen Haubitzen« das Feuer, zunächst, ohne großen Schaden anzurichten.

Gegen Mitternacht jedoch nutzten die feindlichen Angreifer das Licht des Vollmondes, um sich näher an die Stadt heranzupirschen und einen Sturm auf das Hallesche und das Kottbusser Tor zu wagen. Friedrich II. allerdings hatte aus dem Überraschungsangriff der Österreicher drei Jahre zuvor gelernt und in der Nähe der Tore vorsorglich Erdwälle aufschütten lassen, auf denen die Berliner nun ihre Kanonen positioniert hatten und die Russen mit tödlichen Salven empfingen. 200 der Angreifer sollen in dieser Nacht ihr Leben verloren haben, von einheimischen Verlusten wissen die patriotischen Geschichtsbücher des 19. Jahrhunderts nichts zu berichten.

Die Russen zogen sich noch in der Nacht wieder hinter die Weinberge auf das Tempelhofer Feld zurück, wo sie ein Lager errichteten und auf Verstärkung warteten. In den folgenden Nächten wechselten sie mehrmals die Stellung, zogen sich bis nach Köpenick zurück, rückten aber in der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober mit einem Großteil der Truppen noch einmal bis nach Neukölln und Treptow vor, während auf dem Tempelhofer Feld nur kleine Einheiten der Kavallerie und Infanterie stationiert waren.

Auch die Preußen hatten die Nächte über nicht geschlafen und Stellung auf den Anhöhen der Hasenheide bezogen, von wo aus sie den Feind gut im Blick zu haben glaubten. Dass nicht die Niederungen der Spree, sondern das Tempelhofer Feld in ihrem Rücken zum zentralen Kriegsschauplatz werden würde, hatte bei den Preußen niemand für möglich gehalten, obwohl die »russische Kampflinie bereits von Neukölln bis Schöneberg und Steglitz« reichte, während die preußischen Soldaten nur eine kurze Linie von Schöneberg bis zum Dusteren Keller am Kreuzberg bildeten. »Nach anfänglich glücklichem Kampfe wurden die Preußen bis zum Halleschen Tor zurückgedrängt«, so dass die Russen unbehindert den Vetterschen Weinberg an den Tempelhofer Bergen einnehmen und von dort aus sechs Stunden lang die Stadt bombardieren konnten.

Erst als ein preußischer General mit 20 Bataillonen und 30 Eskadronen aus Zehlendorf zur Unterstützung eintraf, zogen sich die Russen weit nach Süden zurück. Damit die Eindringlinge im Schutz der Nacht nicht noch einen weiteren Angriff starteten, positionierten sich die Preußen auf dem Kreuzberg, um den Feind besser im Blick behalten zu können.


Die Bürger innerhalb der Stadtmauern fühlten sich sicher, niemand zweifelte am baldigen Abzug der russischen Truppen. Doch noch in derselben Nacht erhielten die Russen unerwarteten Nachschub durch 16.000 Österreicher, die von Süden her auf das Tempelhofer Feld strömten. So »standen nun 44.000 Russen und Österreicher vor der halboffenen, von 16.000 Preußen besetzten Stadt.« Die Bürger Berlins saßen in der Falle, nur einem heftigen Regen war es zu verdanken, dass die Übermacht der Feinde nicht noch in derselben Nacht in die Stadt einfiel und vergewaltigte, plünderte und brandschatzte.

Die preußischen Generäle sahen ein, dass sie gegen die Russen und ihre Verbündeten keine Chance mehr hatten und zogen ihre Truppen wieder ab, um ein sinnloses Gemetzel und die Plünderung der Stadt zu vermeiden. Auch die Berliner waren vernünftig genug, sich mit den Russen an einen Tisch zu setzen und eine Art Friedensvertrag auszuhandeln. Die Österreicher dürften bei diesen Verhandlungen nicht berücksichtigt worden sein, denn noch in der Nacht rückten sie mit 16.000 Mann auf die Stadtmauern vor und besetzten das Hallesche, das Potsdamer und das Brandenburger Tor.

Das wiederum ließen sich die Russen nicht gefallen und fielen ihrerseits vom Kottbusser Tor in die Stadt ein. »Vom Donnerstag bis zum Sonntag«, verkündet das Geschichtsbuch lapidar, »waren die Feinde in der Stadt« . Zwar legten sie Berlin nicht in Schutt und Asche, aber sie plünderten 282 Häuser der Stadt, um sich ihren wohlverdienten Sold zu sichern.

Die preußischen Mathematiker errechneten später, dass die Niederlage fast 2 Millionen Taler verschlungen hatte - ganz zu schweigen vom unbezahlbaren Prestigeverlust des Königs.•


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