Kreuzberger Chronik
Februar 2016 - Ausgabe 176

Herr D.

Unter Helikoptereltern


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von Hans W. Korfmann

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Der Herr D. bekam unverzüglich schlechte Laune, als sein Nachbar gutgelaunt die Jacke über den Stuhl des kleinen Cafés warf, lässig den Arm auf die Stuhllehne legt und sagte: »Eigentlich fahr ich um diese Zeit ja immer auf die Kanaren. Ich brauchs warm. Ich versteh´ auch nicht, was die alle so meckern wegen dem Wetter. Ich find´ das super, dass wir im Dezember im T-Shirt draußen sitzen können. Ist doch wunderbar. Und Heizkosten sparen wir auch.« - »Da machen Sie sich mal keine Sorgen!«, sagte der Herr D., »die Gasag wird sich schon was einfallen lassen. Aber vielleicht kommt der Winter ja noch.«

Doch eigentlich glaubte der Herr D. nicht mehr an den Winter. Er war sich sicher, dass die Jahre, als sich die Kinder auf den Kanälen zum Schlittschuhlaufen trafen und die Berliner Seen in große, schneeweiße Felder verwandelten, vorüber waren. Doch dann war er plötzlich wieder da, der Winter, und selbst die Moderatoren im Fernsehen sahen erleichtert aus, als sie endlich von Minusgraden sprechen durften. Es war ihnen in den letzten Wochen sichtlich schwer gefallen, gute Miene zu diesem schlechten Wetter zu machen.

Aber weil der Herr D. ein misstrauischer, älterer Herr geworden war und es trotz des plötzlichen Wintereinbruchs für möglich hielt, dass dies der letzte Schnee Berlins gewesen sein könnte, machte er sich auf den Weg zu Kreuzbergs höchstem Gipfel. Schon von Ferne hörte er die Kinder auf den Schlitten grölen, es war eine Geräuschkulisse wie im Prinzenbad. Dabei waren es gar nicht so viele Rodler, die meisten auf dem Hügel standen einfach nur herum und froren.

»Das sind diese Helikoptereltern!« , sagte Heidi, seine ehemalige Nachbarin. »Die kreisen ständig um ihre Gören und observieren. Wir haben unseren Kindern die Mütze aufgesetzt und sie runter geschickt, und dann waren die rodeln, bis es dunkel wurde. Unten, an der Katzbach, stand ständig der Krankenwagen, weil sie immer gegen die Absperrung donnerten. Das war nämlich die Knochenbahn, da gab es ständig Beinbrüche. So war das eben damals.«

Heidi war eine gestandene Kreuzbergerin, sie hatte alles im Blick. »Und da drüben, vom Kreuz die Wiese runter, bei den zwei Hügeln, das war die Berg- und Talbahn. Später hieß sie dann Tittenbahn, weil die Hügel wie zwei Titten aussehen. Und dann gab´s da unten, wenn man den Weg runterrodelte direkt auf die Möckernstraße zu, zwei Bäume, zwischen denen man durch musste, was natürlich nie klappte.«

Gut gelaunt trat der Herr D. nach Sonnenuntergang den Heimweg an. Als er an seinem kleinen Café in der Heimstraße vorbeikam, saß der Nachbar wieder draußen am Tisch und rauchte, eingepackt in einen dicken Mantel, als wäre er in Sibirien. »Na, ist doch auch im Winter ganz schön im Conni Island, oder?« sagte der Herr D., aber der Nachbar brummte nur: »Erzählen sie mir jetzt nix von Inseln!«

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