Kreuzberger Chronik
April 2016 - Ausgabe 178

Kreuzberger
Lina Lindner

Ich fühlte mich wie im falschen Fim


linie

von Ina Winkler

Titelfoto: Dieter Peters

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Linas Tag beginnt nicht vor Sonnenaufgang. Und er beginnt stilvoll wie in alten Schwarz-Weiß-Filmen mit dem Lesen der Zeitungen, den Nachrichten aus dem Radio und dem Durchblättern der Post, auch wenn die nicht mehr im Briefkasten, sondern im Emailpostfach landet. Der Morgen ist Lina heilig. Sie trinkt in aller Ruhe ihren Kaffee und isst ein Vollkornbrot. »Weißes Mehl ist verboten«, schon der Figur zuliebe. Irgendwann geht sie dann zu ihrem Schminktisch. »Ich warte vorsichtshalber ein bisschen, bis ich morgens zum ersten Mal in den Spiegel schaue.«

Lina Lindner ist nicht so jung, wie sie aussieht. Deshalb braucht sie für die Morgentoilette schon etwas länger. Doch das macht ihr nichts aus, im Gegenteil: Sie genießt dieses tägliche Ritual, zuerst das Waschen und das Kämmen, dann kommt das zaghaft sprießende Damenbärtchen an die Reihe, dann das Make-Up und der Lippenstift, der Lidschatten, die Fingernägel und im Sommer auch noch die Fußnägel. Am Schluss legt sie den Schmuck an, die Halstücher, die Ketten, die Armreifen und die silbernen Ringe. Es gibt kaum noch einen Finger an ihrer Hand, an dem es nicht glitzert.

Lina Lindner nimmt sich Zeit. Zeit für sich. Es ist schon lange her, als man sie fragte, was sie denn werden wolle, wenn sie einmal groß sei, und sie antwortete: Rentner. Was von den umstehenden Erwachsenen zuerst belächelt wurde, wurde irgendwann mit Stirnrunzeln beobachtet. Denn das Kind meinte es ernst mit dem Traum vom Ruhestand. Lina brauchte schon immer sehr viel Zeit für sich, sie hatte schon als Kind eine ausgeprägte Vorliebe für das Ausschlafen, und ihre Mutter hatte ihre liebe Mühe damit, das Kind aus dem Bett zu bekommen, damit es in der Schule nicht zu spät kam. So wirklich Spaß hatte das Kind an der Schule ohnehin nicht, das schönste an den Schuljahren waren die Proben mit der Schulband und die sommerlichen Nachmittage mit den Freunden im Schwimmbad. Fotos aus jener Zeit gibt es keine, Lina ließ sich nicht gerne fotografieren, vielleicht, weil ihre Mutter Fotolaborantin und immer mit der Kamera hinter ihr her war. Vielleicht, weil sie ohnehin immer schnell verunsichert war, weil sie sich nicht wohl fühlte in ihrer Haut. Lina Lindner blieb eigentlich am liebsten zuhause. Dort, wo sie wenigstens mal ein bisschen Zeit für sich selbst hatte.

Doch in den Augen der Eltern, die ganz gewöhnliche Eltern waren, war die kleine Lina ein Problemkind. Der Vater, der im Krieg ein Bein und viel Geduld verloren hatte, versuchte, sie mit Prügeln wachzurütteln. Doch leider ohne Erfolg. Die Mutter kreuzte die Hände über der Brust und sagte, dieses Kind würde sie noch ins Grab bringen. Nur leider ebenfalls ohne Erfolg. Lina zog sich noch ein Stückchen tiefer zurück in ihr Schneckenhäuschen. Sie hielt den Druck nicht aus, der von allen Seiten auf sie ausgeübt wurde. Sie wurde immer schweigsamer, immer trauriger, immer verstockter. Sie hatte keine Lust mehr. Und dann kam irgendwann der Tag, an dem sie das deutliche Gefühl hatte, anders zu sein und kein normales Leben mehr leben zu können.

Es waren nicht die besten Voraussetzungen für ein Leben im Arbeiter und Bauernstaat der DDR, aber Lina Lindner versuchte es. Sie suchte sich - so wie alle anderen in ihrem Alter - nach der Schule eine Lehrstelle und nach der abgeschlossenen Lehre eine Arbeit, auch wenn sie das eigentlich nur tat, da ihr ansonsten wegen »asozialen Verhaltens« eine Gefängnisstrafe gedroht hätte. Und das einzig Gute an dieser Arbeit in dem Elektrowerk, das Antennen für Westdeutschland produzierte, war, dass nun auch sie auf dem Speicherboden unter dem Dach eine heimliche Antenne installieren konnte, um nach Feierabend in den Westen hinüber zu spähen. In das Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten.

Und je mehr sie spähte, um so klarer wurde ihr, dass es ein langer und mühsamer Weg durch die DDR werden würde bis zum ersehnten Rentnerdasein, bis sie endlich Zeit für sich haben würde. »Jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen, nur, um dann den ganzen Tag einen Chef vor der Nase zu haben, das war nichts für mich!«

Im Mai 1976, vor genau 40 Jahren, setzte sie sich mit ihrer Freundin in einen Zug, der von Budapest weiter in Richtung Westen rollte. Sie wollten ein kleines ungarisches Dorf in der Nähe der österreichischen Grenze besuchen, das sich wegen seines historischen Dorfkerns einer gewissen Berühmtheit erfreute. Doch die Zivilbeamten, die sämtliche Abteile im Zug nach Flüchtlingen durchsuchten, nahmen dem jungen Pärchen aus Berlin das rege Interesse an alten Mauerwerken nicht ab. Sie begleiteten die vermeintlichen Republikflüchtlinge vorsichtshalber zurück bis nach Budapest und gaben erst Ruhe, als die beiden wieder im Zug nach Berlin saßen.

Als sie drei Monate später schon wieder ein Visum für Ungarn beantragten, waren die Namen der Bürgerin Lina Lindner und ihrer Freundin natürlich längst aktenkundig. Schon auf dem Flughafen in Leipzig fischte man die Deserteure aus der Warteschlange am Abfertigungsschalter, durchsuchte das Gepäck, beschlagnahmte eine Landkarte von der österreichisch-ungarischen Grenze und ein paar Westmark, die Lina von der Großmutter erhalten hatte, und steckte sie wegen Republikflucht ins Gefängnis.

Dieses Land war nicht Linas Land. Noch aus dem Gefängnis schrieb sie in einem Brief an Mielke, dass sie anders sei, und dass sie hier kein normales Leben mehr führen könne. Dass sie in der DDR keine Perspektive für sich sehe. Sie bat um die Ausreisegenehmigung. Nach 19 Monaten in verschiedenen Gefängnissen kam sie in ein Sammellager in Karl-Marx-Stadt, und im Mai 1978 fuhr sie gemeinsam mit vielen anderen DDR-Überdrüssigen in zwei Reisebussen über die Grenze in eine Stadt namens Gießen. Ein Jahr später stand sie dann endlich im gelobten Land, in Westberlin.

Aber glücklich war sie noch nicht. Sie fühlte sich noch immer unwohl in ihrer Haut, »wie im falschen Film« . Und sie hatte auch hier das Gefühl, viel zu wenig Zeit für sich selbst zu haben, und auch das Aufstehen war noch immer ein Problem. Da kam ihr das Hansa-Theater in Moabit gerade recht, das für die Proben am Nachmittag und die Vorstellungen am Abend noch einen Veranstaltungstechniker suchte. Zehn Jahre blieb Lina an dem Theater, in dem erst Marlene Dietrich und später Brigitte Mira, Heinz Erhardt und Harald Juhnke das Publikum begeisterten. Sie stieg vom Techniker zum Inspizienten des Theaters auf, stand Bühnentechnikern, Beleuchtern und Toningenieuren vor - ein Aufstieg, der ihr in der DDR nie gelungen wäre. Doch auch wenn ihr die Arbeit Spaß machte, wenn sie hier keine gewöhnlichen, langweiligen Leute mehr traf, sondern Schauspieler, Musiker, Regisseure, Transvestiten, auch wenn sie hier gutes Geld verdiente, verlor sie doch bei alledem ihr Lebensziel nie ganz aus den Augen: ein freies Rentnerdasein! Es waren erfolgreiche und spannende Jahre, aber noch immer fehlte Lina Lindner die Zeit. Die Theaterpausen waren zu kurz, um das Leben in all seiner Fülle auszuleben, und auch, um »sich selbst kennenzulernen« .

Es blieben ihr gerade mal sechs Wochen in jedem Sommer, um mit dem VW-Bus nach Spanien, nach Marokko oder in die Türkei zu fahren. Als sie eines Tages den alten Mercedes LA 710, diesen tarnfarbenen Sanitäterwagen auf der Straße des 17. Juni stehen sah und die kleine Zahl auf dem kleinen Preisschild in der Scheibe las, zögerte sie nicht lange. »Das war ein Zeichen! Der Wagen kostete 8.500 Mark, genau so viel, wie man mir als Ablöse für die Wohnung in Moabit angeboten hatte.« Es war klar: Lina Lindner sollte dieses Auto zu ihrem Wohnsitz machen.

Dieses Auto war groß genug, um darin zu wohnen. Auch groß genug, um damit endlich auf die große Reise zu gehen. Auf Lina Lindners Lebensreise. Doch erst einmal stand es jahrelang hinter dem Theater, denn nur, wenn von der ohnehin schon knappen Zeit des Theaterinspizienten einmal ein paar Stunden übrig blieben, konnte sie sich mit den ausgedienten Theaterkulissen ihr zukünftiges Zuhause zurechtzimmern. Sie baute einen Ofen ein, montierte Solarzellen aufs Dach, schloss einen Fernseher an und richtete eine Kochecke ein.

Aber im Sommer des Jahres 1988 war sie tatsächlich startklar, kündigte tatsächlich ihren Job beim Theater und ging auf ihre Lebensreise. Hatte endlich Zeit. Genoss das Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten. Verbrachte Monate in Nordafrika, andere in der Türkei. Und die Winter in Spanien. Sie hatte die 150 Quadratmeter ihres Hauptwohnsitzes im Altbau in Moabit erfolgreich gegen die 10 Quadratmeter im Inneren eines Automobils getauscht.

Viele Sommer ist sie unterwegs gewesen, aber seit 15 Jahren hat sie ihr Zuhause in der Lilienthalstraße, zwischen anderen Kreuzberger Wagenbürgern, zwischen lauter anderen ungewöhnlichen Menschen. Sie ist schon ein bisschen sesshaft geworden, trotz des mobilen Wohnsitzes. Vielleicht, weil sie ihr Ziel erreicht hat, weil Lina Lindner alt genug geworden ist, um - so wie all die gewöhnlichen Menschen ihres Alters auch - endlich ein freies Rentnerdasein zu führen.

Denn der Zahn der Zeit gibt keine Ruhe, er nagt unaufhörlich, sogar das edle Blech des Mercedes hat Rost angesetzt. Vielleicht wird Lina Lindner doch noch einmal in ein Steinhaus ziehen müssen. Aber es müsste eines in der Nähe der Markthalle sein. Der Nachmittag beim Spanier in der Halle ist so heilig wie der Morgen in den eigenen vier Wänden. Und sie weiß, es wird nicht leicht sein, in Kreuzberg eine Wohnung zu finden. Nicht einmal für einen Paradiesvogel wie sie.

Foto: Privat
Manchmal denkt Lina Lindner daran, zurückzufahren nach Spanien. Ganz Spanien ist voller deutscher Rentner! Gewöhnlicher und ungewöhnlicher. Fünfzehn Jahre lang verbrachte sie jeden Winter in Almeria, in einem Hippiedorf, nicht weit vom Meer. Spanien ist ein ganz besonderer Ort für Lina Lindner, hier trifft sie immer Gleichgesinnte, Menschen, die ebenso wie sie die Zeit noch zu schätzen wissen. Die Zeit nicht in Geld, Erfolg oder Immobilien messen, sondern in Monaten, Tagen und Stunden. Jetzt, im Nachhinein, in der Retrospektive, sieht es manchmal so aus, als wären die Flucht aus der DDR, das Gefängnis, die Jahre am Theater nichts weiter gewesen als Stationen auf ihrem Weg nach Spanien. Denn es war in Spanien gewesen, wo sie das erste Mal das Gefühl hatte, wirklich Zeit für sich zu haben. Zeit, sich endlich selbst zu entdecken. Es war die Zeit, als sich etwas Entscheidendes veränderte.

Foto: Privat
Hier in Spanien war es, wo eines Tages die Damenstiefel neben der Mülltonne standen. Sie sahen aus wie neu, und sie passten, als wären es schon immer ihre gewesen! Zwei Tage später kaufte sie sich einen Lippenstift, dann kam der Nagellack hinzu, in einer Mischung aus rosa, violett und weinrot. Lina Lindner hatte noch nie Schminke, Tusche und Rouge aufgelegt. Sie überzog den Küchentisch in ihrem Wohnmobil mit rotem Schlangenleder und montierte einen kleinen, schwenkbaren Spiegel davor. Sie kaufte Ringe, Ketten, Kleider, all das, was ihre Freundinnen schon immer gekauft und getragen hatten. Und sie gefiel sich, fotografierte sich und ließ sich fotografieren, lief nicht mehr davon, sondern zeigte die Bilder ihrer Freundin. Und auch die Freundin war begeistert. Die Ringe, der Schmuck, die Kleider, das alles stand ihr wunderbar. Sie konnte endlich ein normales Leben führen, mit der Freundin shoppen gehen, »auf dem Ku´damm, wo sonst!«

Es war, als wäre sie endlich im richtigen Film gelandet, einem Film, in dem Freundinnen mit übereinandergeschlagenen Beinen vor den Cafés in der Sonne sitzen und über die Männer witzeln, die vorüberstolzieren; über schlecht gekleidete Geschlechtsgenossinnen lästern; in Boutiquen stehen und über Dessous fachsimpeln. Lina Lindner fühlt sich endlich wohl in ihrer Haut, sie genießt es, wenn ihr die Verkäuferinnen auf dem Weg zur Garderobe nachschauen, und wenn die Männer sich nach ihr umdrehen, wenn all diese gewöhnlichen Männer und Frauen ihre verstohlenen Blicke dorthin lenken, wo sie Aufschluss darüber zu finden glauben, ob diese Frau nun ein Mann ist oder doch nur eine Frau. Leider ohne Erfolg.


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