Kreuzberger Chronik
September 2014 - Ausgabe 162

Essen, Trinken, Rauchen

Kopfstand bei Dionysos


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von Horst Unsold

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wei alte Kreuzberger hatten Hunger.»Gehen wir zu Jorgos, ins Z. « - »Ach, lieber ins Dimokritos.« -»Da waren wir doch gestern erst.« - Die Altkreuzberger hatten keine Lust auf neue Lokale, die für viel Geld wenig Essen verkauften, und in denen der Wirt sie so freundlich bediente, als kämen sie aus München.

»Aber es gibt da einen neuen Griechen in der Gneisenau...«

Der neue Grieche hieß so, wie auch die alten alle hießen, diese Sorbasse, Odysseusse, Sokratesse: Er hieß Dionysos. Auch der Wirt trug einen dieser griechischen Allerweltsnamen, den alle tragen, diese Jannisse, Jorgosse, Dimitrisse, Nikosse: Er hieß Panajotis.

Und mehr noch: Er kam sogar aus dem gleichen Dorf wie die Wirte vom Z. und vom Dimokritos. Und er war sogar noch vor ihnen hier gewesen, war hier zur Schule gegangen, ausgerechnet in der Gneisenaustraße. In eine Klasse voller kleiner griechischer Einwanderer.

Der Wirt des Dionysos war also gar kein neuer, sondern ein alter Grieche. Und er erzählte viel, während die Altkreuzberger ihre Souvlakispieße abnagten und Kartoffeln aufspießten. Er erzählte, dass er schon einmal ein griechisches Lokal in der Bergmannstraße gehabt hatte, vor vielen Jahren. Bis eines Tages so ein kleiner Asiate hereinkam und sagte: »Oh, das ist aber ein schönes Restaurant. Wollen Sie das nicht verkaufen?« Der kleine Mann war einer der ersten, der ahnte, dass man in der Bergmannstraße eines Tages mit etwas Reis und Sojasoße ein gutes Geschäft machen könnte. Aber der Grieche wollte nicht verkaufen, und deshalb nannte er einen ziemlich hohen Preis. Am nächsten Tag aber stand der Kleine plötzlich wieder vor dem großen Griechen, mit einer Plastiktüte voller Geldscheine. »Ganz allein, mit einer Plastiktüte!« Es war nicht so viel, wie der Grieche hatte haben wollen, aber es war verlockend viel. Und so verließ der Grieche den Bergmannkiez wieder, verließ sogar Berlin, um jetzt, viele Jahre später, noch einmal sein Glück in Berlin zu probieren. In der Gneisenaustraße. Gleich gegenüber von seiner alten Schule.

Es wurde ein langer, griechischer Abend. Nikos, den die beiden vom Z kannten, kam auf ein Bier vorbei, und Achim, der sonst immer in der Arndtstraße saß, kannte das Dionysos »schon lange«. Sogar ein Jorgos kam herein, setzte sich zu den Kreuzbergern an den Tisch, als säße wäre es eine Taverne am Meer und als müsse er den Fremden etwas über sein Land erzählen. Nach einigen Glas Wein war er so guter Laune, dass er auf dem Straßenpflaster, mitten auf der Gneisenaustraße, nachts um halb zwölf, einen Kopfstand machte.

Es war ein Abend, den sie auch in der Arndtstraße oder in der Friesenstraße hätten erleben können. Und die Altkreuzberger kamen zu dem Schluss, dass sie künftig nicht mehr die Wahl zwischen zwei, sondern zwischen drei Stammlokalen hatten. •

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