Kreuzberger Chronik
Februar 2014 - Ausgabe 155

Kreuzberger
Hildegard Mittenzwei

Einmal Kreuzberg, immer Kreuzberg


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Es war eine kalte Nacht, der Schnee lag einen halben Meter hoch am 17. Februar 1924, als zwei Ärzte und eine Hebamme das spiegelglatte Kopfsteinpflaster der Nostitzstraße hin-aufliefen, auf denen die Kinder mit ihren Schlitten rodelten. Das junge Ehepaar, das nach Hilfe gerufen hatte, wohnte in der Hauswartswohnung im Erdgeschoss. Die Wohnung war ein Glück, der werdende Vater hatte seinen einzigen Anzug angezogen, die Frau an seiner Seite das weiße Voilekleid, als sie wegen der Hauswartsstelle vorsprachen. Dass sie dringend eine richtige Wohnung brauchten, war Rudolf erst klargeworden, als er eines Abends mit einem Teppich unter dem Arm nach Hause gekommen war und Martha nur gesagt hatte: Wir brauchen keinen Teppich, wir brauchen einen Kinderwagen. Jetzt lag die Schwangere in der kleinen Kammer des Seitenflügels im Erdgeschoss in den Wehen, und es dauerte nicht mehr lange, da war Hildegard Hussmann geboren.

Sie wohnt noch heute in diesem Haus, 90 Jahre danach, in dem Haus, in dem sie geboren wurde. Sie hat ihre Kindheit auf der Straße verbracht, hat »Fischer, wie tief ist das Wasser« gespielt, auf dem Hackklotz im Hof »Puppenwäsche gemacht«, während Muttern in der richtigen Waschküche richtig arbeiten musste.

Die Familie Hussmann blieb in der Erdgeschosswohnung im Hinterhaus, bis das »Hildchen« zehn Jahre alt war. Dann zogen sie ein paar Ecken weiter nach oben. »Einmal Kreuzberg, immer Kreuzberg!« Sie wohnten jetzt in der Fidicinstraße, in einer größeren Wohnung. Weil nämlich »Onkel Arthur, der mit der Haartour«, beim Rangieren unter die Räder der Eisenbahn gekommen war und beide Beine verloren hatte. Er brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte. Ein Jahr lang hatte er im Krankenhaus gelegen, und seine Verlobte hatte ihm die Treue gehalten. Aber die Sache war hoffnungslos, eines Tages hatte der junge Mann die junge Frau in die Freiheit entlassen und zog zu den Verwandten in die Fidicinstraße Nr. 17, an der Ecke zur Schwiebusser Straße, die noch eine staubige, ungepflasterte Landstraße war. Gegenüber lagen das kleine Haus des Pferdelazaretts, dahinter das weite Feld des Tempelhofer Feldes mit dem Flughafen. Der Ausblick war schön, oft saß die Familie beim Kaffee auf dem Balkon in der Sonne, aber das Leben für Arthur war eine Quälerei mit dieser Prothese, »alles aus schwerem Holz und aus Leder. Ganz feinem Leder, sonst hätte er sich ja alles aufgescheuert.« Das weiche Leder erinnerte Hildegard noch viele Jahre an den Onkel Arthur, sie hatte es säuberlich von der Prothese abgetrennt, um die Fenster damit zu putzen.

Hildegard war geschickt, nur in der Schule gab es Bessere als sie. Rechnen allerdings konnte das Mädchen, und so fand die Vierzehnjährige eine Stelle beim Wirtschaftstreuhänder und Hausverwalter Wanek am Belle Alliance Platz. Viele Jahre rechnete sie für das Büro und wartete darauf, dass das Weihnachtsgeld vielleicht doch einmal erhöht werden würde. Als es nach 30 Jahren noch immer 100 Mark waren, kündigte sie. Und suchte sich eine Stelle am Erkelenzdamm. »Einmal Kreuzberg, immer Kreuzberg!«

Nach einem Mann suchte sie nicht mehr. Männer spielten im Leben von Hildegard keine allzu große Rolle. »Ich hab mein Leben lang gearbeitet!«, 30 Jahre im Steuerbüro, fünf Jahre im Maurerbedarfsgeschäft Backe am Erkelenzdamm«, 18 Jahre saß sie bei Hertha BSC an der Kasse, 45 Jahre ehrenamtliche Schatzmeisterin beim FC Südring. »Nö - Männer? Ick war doch den janzen Tach unter Männern, wat sollte ick mir da ooch noch eenen ins Haus holen!«

Foto: Privat
Verheiratet war sie trotzdem einmal. Die Hauswirtin aus der Fidicinstraße hatte Besuch von einem jungen Studenten aus Jena und fragte, ob Hildchen ihm nicht mal ein bisschen die Stadt zeigen könne. Wenig später hieß Hildegard »Mittenzwei«, aber nach neun Jahren ging Johannes zurück und wurde ein bekannter DDR-Schriftsteller. Damit das Ganze auch ein Gutes hatte, wurde vorher Lutz geboren. Im Urbankrankenhaus. »Einmal Kreuzberg, immer Kreuzberg!« Auch Lutz hat das Viertel nicht verlassen, er wohnt jetzt in der Parterrewohnung vom alten Justav, direkt unter Muttern. Wenn Hildchen etwas braucht, stampft sie mit dem Fuß auf oder klopft mit dem Stock.

»Also Männer, das war nie son großes Thema.« Nur der »Onkel Justav« war einer, an den die alte Dame gerne zurückdenkt. »Ach, war det schön! Wenn der Justav nach Hause kam, dann musst ick ihm immer die Stiefel ausziehen, und für jeden Stiefel jabs zehn Pfennige. Und dann haben wir immer Kalbsbries mit Ei aus der Pfanne gegessen.« Der Onkel Justav war kein leibhaftiger, aber er war ein lustiger, Onkel. Er besaß eine Kaffeerösterei in der Dresdener Straße, und weil es so heiß war in der Rösterei, hatte er nach Feierabend immer einen großen Durst. Sein Stammlokal war ein Gartenlokal an der Gneisenaustraße, »die hatte ja damals noch Vorgärten. Die verschwanden erst, als dem Hitler die Straße plötzlich zu klein erschien. Das Lokal hieß Smeibidl oder so ähnlich« und lag an der zur Ecke Belle Alliance. Wenn der Justav abends wieder mal nicht nach Hause kam, weil er zu viel getrunken hatte, dann musste ihn jemand dort abholen. »Und da mein Vater dann aber auch nicht wiederkam, musste meistens ich gehen. Die kannten mich schon alle da beim Smeidbidl

Der Justav trank nicht nur gern, er wettete auch gern. Er setzte auf Pferde. Jeden Sonntag schickte er die Hilde mit den Wettzetteln ins Wettbüro gegenüber. »Dafür gabs jedes Mal 50 Pfennige, das war ne Menge Geld! Aber der Justav hat auch gut gewonnen damals. Anders als heute. Heute kann man mit Pferden kein Geld mehr machen.«

Foto: Privat
1934 war die kleine Hilde dann von der Nostitzstraße in die Fidicinstraße gezogen. Fünfzig Jahre später, im Sommer 1984 zog sie zurück in die Nostitzstraße. Nummer 33. Das Haus, in dem sie geboren wurde. Einmal Nostitz, immer Nostitz. Das Haus hat sich kaum verändert seit damals, bis heute hat sich die Nummer 33 erfolgreich gegen sämtliche Immobilienmakler gewehrt, sie ist noch immer das bescheidene Haus mit seinen bescheidenen Mietern und dem etwas lichtscheuen Hinterhof, in dem am 17. Februar 1924 ein kleines Mädchen geboren wurde. Und vor dem damals der Obst- und Gemüsehändler Schirm seinen Wagen stehen hatte. Jeden Tag stand er da mit Äpfeln, Birnen, Pflaumen und Gemüse auf dem Pflaster der Nostitzstraße, seinen Wagen hatte er zwei Häuser weiter in einer Remise, und sein Pferd stand in der Zossener Straße. Und weil die Hilde so ein nettes Mädchen war, und weil alle in der Straße die kleine Hilde kannten - »ick war ja überall zuhaus, beim Bäcker saß ick immer auf der Treppe und bekam was Süßes, in der Wäscherei, beim Schuster, bei den Nachbarn, ick konnte überall rin, die hatten ja alle keine Kinder damals nach dem Krieg...« - nahm der Herr Schirm sie manchmal mit in die Zossener zu seinem Pferd. Dann durfte sie sich darauf setzen und im Hof und auf der Straße reiten. »Dann ritt ich zwischen den Stelzenmännern mit ihren hohen Zylindern durch, die für Schuh-Leiser Reklame machten, und die dann genauso hoch waren wie ich.« Das ging gut, bis die Mutter sich eines Tages fragte, warum das Kind immer so lange weg blieb, obwohl sie doch nur um die Ecke Milch holen war.

Foto: Privat
Wären der Justav und der Herr Schirm nicht gewesen, dann stünde Hildegard womöglich nicht jedes Rennwochenende in Karlshorst auf der Tribüne, um ihr Pferd anzufeuern. Seit 4 Jahren geht Mr. Big für sie an den Start. Vorher waren da Ernst Diamant, Emilio Star, Ratsherr III, Jenny Mc Coy.... So oft die Namen der Pferde auch wechselten, nur die Besitzerin hieß immer Hildegard Mittenzwei. Und bei fast jedem Rennen war sie dabei. Seit 1979, seit Mr. Fanto das erste Mal für sie ins Rennen ging. »Ick muss mich ja irjendwie beschäftgen. Und Mr. Big ist `n janz lustger Vogel«, obwohl er ja nur ein einziges Mal gewonnen hat. Onkel Justav hätte den Gaul wahrscheinlich längst wieder verkauft. Aber Mr. Big war schon 13 Mal Zweiter. »Da kann man ja nicht aufgeben!« Und schließlich geht es ja auch gar nicht mehr ums Gewinnen. »400 Euro Siegerprämie, das reicht nicht mal fürs Futter!« Aber an der Bahn stehen und die Pferde laufen sehen. Das ist es. Es ist Hildes alte Liebe zu den Pferden, ihre Leidenschaft. »Ick kann doch nich ewig vor dem Fernseher sitzen...«

Auch Mr. Fanto hatte nie gewonnen. Aber es tat der Besitzerin nie leid um das Geld, das sie für ihn bezahlt hatte. Sie hatte es gewonnen, mit fünf kleinen Kreuzchen, mit einem Lottoschein aus der Friesenstraße. Sie hatte gewonnen, so wie einst der Justav, und mit Mr. Fanto alles auf eine Karte gesetzt. So wie einst auch dieser Justav Ziemer einmal alles auf eine Karte gesetzt hatte. •






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