Kreuzberger Chronik
September 2012 - Ausgabe 140

Strassen, Häuser, Höfe

Die Monumentenstr. Nr. 21


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von Michael Unfried

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Die Monumentenstraße Nr. 21 »Es ist über hundert Jahre alt, hat den ersten und den zweiten Krieg unbeschadet überstanden.«

von Michael Unfried

Manchmal bleiben die Spaziergänger, die das kleine Sträßchen vom Monument auf dem Kreuzberg herunterkommen, an der Katzbachstraße stehen und betrachten die zwei baugleichen Häuser, die den Eingang zur Monumentenstraße flankieren. Das Gebäude auf der linken Straßenseite ist frisch gestrichen, ein Künstler hat Putten, Engel und Säulen auf die strahlend weiße Fassade gesprüht, die täuschend echt aussehen. Das große, kunstvoll geschwungene »K« im Zentrum des Ensembles allerdings erinnert nicht an die Schlacht am Katzbach, sondern an den neuen Eigentümer des alten Hauses: Herrn Katzmann.

Herr Katzmann ist Geschäftsmann, die Historie interessiert ihn wenig. Deshalb warten im Hof die alten Dielen, Türen und Fenster mit den originalen Messingbeschlägen schon auf den Abtransport zum Schrottplatz. Über 100 Jahre hatten sie ihren Platz in diesem Haus, das seit 1898 auf seinen hölzernen Pfählen steht, und dessen Treppenhäuser einst »Nur für Herrschaften« waren. Dienstmädchen, Postboten und Handwerker durften die Wohnungen nur über die Treppe betreten, die zu einer Galerie von Balkonen im Hinterhof führte, auf denen sich die Dienstboteneingänge befanden.

Im Hinterhaus mit den drei Garagen, in denen zuerst Droschken und Pferde und später die schwarzen Automobile der beiden Taxichauffeure standen, wohnten einfachere Leute. Vorne aber residierten die Herrschaften, Ärzte und Beamte und deren Frauen, die im Sommer auf den Balkonen standen und rauchten und im Winter zusahen, wie die auf dem steilen Anstieg der Katzbachstraße im Schnee gestrauchelten Brauereigäule von mehreren Männern wieder auf ihre vier Hufe gestellt werden mussten.

Eine alte Dame im dritten Stock erinnert sich noch, wie Bianca Rosenberg einmal im Monat nach ihrem Haus und ihren Mietern sah, und wie sie sich mit dem Portier besprach: Wegen der Waschküche auf dem Dach, wegen der Apotheke neben dem Viktoria-Eck, oder wegen des Zigarrenladens auf der anderen Seite. Sie kann sich noch gut an den Papagei auf dem Balkon erinnern, der »Herein« krächzte, sobald sich ein Besucher näherte.

Die Dame, die all diese Bewohner und ihre Geschichten noch kennt, wohnt seit 89 Jahren in dem Haus an der Monumentenstraße. Sie hat im Sommer im Hof in der Zinkbadewanne geplanscht und in der Einfahrt, wo der Vater sie nicht sehen konnte, darauf gewartet, dass der Chauffeur aus der Garage kam, damit sie heimlich einsteigen und bis zur Brücke mitfahren konnte.

Sie weiß auch noch, wie nach dem Krieg die Russen im ersten Stock des feinen Hauses einzogen, und wie sie dem Mongolen mit der dicken Backe ein Schmerzmittel gab. Der Ärmste war so dankbar, dass er ihr, als sie Monate später das Haus wieder verließen, noch ein Stück Speck vorbeibrachte. Auch die zwei Kühe hat die alte Dame nicht vergessen, die damals im Hinterhof standen, und die täglich von der Portiersfrau gemolken wurden. Die Milch allerdings war den Besatzern und den Kindern im Haus vorbehalten, und als die Melkerin eines Tages etwas von dieser Milch stibitzte, wurde sie von den Soldaten »ordentlich verdroschen«.

An all das erinnert sich die alte Dame noch, auch an das Haus auf der anderen Straßenseite, dessen Dachstuhl abgebrannt war, und das als »letzte Rettung« eine traurige Berühmtheit erlangte. Um den Russen zu entgehen, stürzten sich die verzweifelten Frauen von dem leicht zugänglichen Dach in den Tod. Die Wohnungen waren leer, die Menschen hausten auch Wochen nach den zerstörerischen Angriffen noch in den Kellern, aus Angst vor den Besatzern. Auch der Wirt vom Viktoria-Eck konnte sich gegen die rauen Sitten nicht durchsetzen. Als die Russen von ihm verlangten, er solle die hübsche Kellnerin herausgeben, stellte er sich schützend vor sie. Und bezahlte seine Courage mit dem Leben.

Foto: Privat


Später, in den Siebzigerjahren, als Studenten und Lebenskünstler aus aller Welt nach Berlin kamen, hieß das Viktoria Eck plötzlich Orpheus. Das Lokal mit den jungen Leuten, Bier und Wein und Pizza war Kult. Eines Tages kam Seyfert, der Wirt des Lokals, auf die Idee, eine Surfschule auf Paros zu eröffnen. Also wanderte Bernd Schulz, der als Kellner dort arbeitete, 1979 nach Paros aus. Er blieb fast 30 Jahre lang dort. In das Lokal zog später diese Blonde ein, eine Frau mit gewaltigem Busen und gewaltiger Stimme, umgeben von weniger schweren Mädchen mit rauchigen Stimmen. Sie machte das Orpheus zum Alptraum, einem eigenwilligen Lokal, das nie schloss, eine der besten Musikboxen Berlins und ein authentisches Berliner Publikum besaß. Doch als Katzmann das Haus kaufte, wechselte auch das Lokal den Besitzer. Der Alptraum wurde allmählich zum Alptraum. Das Ein-Euro-Lokal sorgte für kotzende Kundschaft in den Hauseingängen und von hysterischem Geschrei begleitete Prügeleien um postpubertäre Girlies. Jetzt ist der Alptraum ausgeträumt, das Lokal steht leer. Vielleicht wird ein cleverer Gastronom die vorteilhafte Lage des Hauses am ehemaligen »Ziegeleiweg« nutzen, um eine feine Goldgrube daraus zu machen.

So wie damals, als hier die jungen Leute feierten, als die Brauereipferde noch im Schnee ausrutschten und die Kinder in Erwartung einer Eiswaffel vom Brunnen in der Eylauer Straße Wasser für den Eismann holten, der am Parkeingang stand, so wird es nie mehr sein. •


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