Kreuzberger Chronik
Oktober 2012 - Ausgabe 141

Geschichten & Geschichte

Baracken vor dem Kottbusser Tor


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von Werner von Westhafen

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In Berlin stiegen die Mieten, Menschen schliefen auf der Straße. Da enstand vor dem Stadttor der Freistaat Barackia

Berlin wird zur Weltstadt. Doch mit dem Ruhm der Stadt wächst auch die Not. Wohnungen sind Mangelware. Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts ist die halbe Stadt ohne festes Obdach. (Vgl. Kreuzberger Chronik Nr. 134) Spekulanten bauen in rasender Eile, doch sie können der wachsenden Nachfrage nicht gerecht werden, und so klettern die Mieten schneller in die Höhe als die Neubauten.

Zehn Jahre später berichtet ein Korrespondent der Augsburger Allgemeinen Nachrichten von Obdachlosen, die in „der Umgebung der Stadt brachliegendes Land besetzt und Bretterbuden aufgeschlagen“ haben. „Lager mit Tausenden von Menschen“, allein auf dem Tempelhofer Feld wurden 400 Holzhütten gezählt, und „auf den Schlächterwiesen vor dem Kottbusser Tor“ wurde sogar der „Freistaat von Barrackia” ausgerufen.

Der Korrespondent schreibt, dass ein pfiffiger Wohnungsloser sich für kleines Geld ein Feldstück gepachtet und eine Bretterbude darauf gestellt hatte. Allmählich sei zwischen dem Kottbusser Damm „auf dem Weg zur Hasenheide“ eine regelrechte Ansiedlung entstanden. „Zwischen Kartoffelackern und Wiesen“ standen „mehr als hundert solcher Baracken.“

Was da zwischen Stadt und Hasenheide im Grünen entsteht, ist eine Idylle. „Jeder hatte sich sein Baumaterial selbst besorgt: Bretter für die primitiven Holzbuden mit zwei kleinen Stuben, Fenster und Türen von irgendwelchen Abrißbaustellen - es klebten noch die Reste alter Tapeten und Ölfarben daran - manche bunt verglast und schräg geschnitten, weil sie aus Treppenhäusern stammten - wahre ‘Luxusartikel’ und von den Hausfrauen zierlich mit Gardinen geschmückt. Manche Hütten besaßen sogar einen Anbau mit Küche und Vorratskammer, aus dem das herausgesteckte Ofenrohr qualmte. Andere stellten sich zum Kochen ihr eisernes Öfchen ins Freie oder hatten sich einen Herd zusammengemauert.“

In der poetischen Gartenlaube erscheint der fein-ironische Beitrag eines Schriftstellers, der von einem „neuen Freistaat im eigentlichen Sinne des Wortes“ schwärmt, von einem „Staat in freier Luft, auf freiem Felde, mit der freiesten Aussicht und den freisinnigsten Institutionen, frei von allen Chicanen der Polizei, frei von Executoren und tyrannischen Hauswirthen, ohne Miethsabgaben und Steuern, ohne verpestete Rinnsteine und anrüchige Senkgruben, frei von allen Lasten und Qualen der Weltstadt“. Er ortet „paradiesische Zuständen, von denen sich die kühnste Phantasie nichts träumen läßt“, entdeckt ein „Sanssouci“, mit „blauer Tapete“ bekleidete Räume, „die ganze Einrichtung verrieth eine gewisse Wohlhabenheit; wir bemerkten ein Sopha von polirtem Birkenholz, mit grünem Damast überzogen, einen guten Kleiderschrank, Tische, Stühle, eine größere und eine kleinere Bettstelle, worin ein Kind mit rothen Wangen und blauen Augen lag und uns anlächelte.“

Auch die Spenersche Zeitung entwirft ein positives Bild vom Leben in Barrackia und vermutet sogar, dass einige der Bewohner nicht aus purer Not, sondern aus „Lust am Ungewöhnlichen und Abenteuerlichen“ vor die Stadttore gezogen seien.

Einen Sommer lang konnten die Bewohner Barackias aus der Not eine Tugend machen – dann nahte das traurige Ende der Utopie. Selbst Bürgermeister Hobrecht konnte es nicht verhindern, ein Humanist, der wenige Jahre zuvor noch die englischen Villenviertel und abgesonderten Slums kritisiert hatte und voller Überzeugung schrieb, wie wunderbar das Wohnen in Berlin sei, wo in der Belle Etage feine Leute und im obersten Stockwerk einfache Handwerker wohnen. Hier „gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur, wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns.“

Hobrecht erwähnt als erster jene berühmt gewordene Kreuzberger Mischung, das „Durcheinanderwohnen“ von Professoren und Arbeitslosen in einem Haus, das Berlin in den Siebzigern legendär machte, und das auch heute wieder durch Spekulanten bedroht ist. Obwohl schon Hobrecht schrieb: „Nicht Abschließung, sondern Durchdringung scheint mir aus sittlichen und darum aus staatlichen Rücksichten das Gebotene zu sein.“

Als am 31. Juli 1872 eine Delegation der Barackenbewohner beim Bürgermeister vorspricht, versichert Hobrecht, sie könnten auf der Wiese bleiben, bis die neu gegründeten Baugesellschaften weitere Unterkünfte errichtet hätten. Zwei Wochen später stehen sie abermals vor ihm, denn Guido von Madai, der gerade ins Amt gehobene Polizeipräsident, verlangt die sofortige Räumung. Der Schuhmachermeister Albert Haack aus »2. Reihe, 1. Bude« wendet sich sogar an den Kaiser persönlich und bittet im Namen von 42 Erwachsenen und 59 Kindern um einen Aufschub. Doch der Kaiser blieb die Antwort schuldig, und auch James Hobrecht konnte nur noch auf das neue Baugesetz verweisen.

Das Polizeiprotokoll schildert die Vorgänge am 27. August nüchtern: Als die Bewohner „nicht gutwillig gingen, wurde mit Zerstörung gedroht und diese auch ausgeführt. Am 27. August wurden 21 Baracken ... durch die Feuerwehr abgebrochen. Die Möbel der Barackenbewohner, wie die Bestandteile der Baracken selbst, wurden nach dem Friedrich-Wilhelm-Hospital (...) geschafft und den Insassen das Arbeitshaus als vorläufiges Obdach angewiesen, so groß auch der Widerwille gegen dasselbe bei Einzelnen war.« Gedeckt wurde die Aktion wurde von 200 bewaffneten Polizisten – ebenso wie hundert Jahre später in Kreuzberger Hausbesetzerzeiten. Was aus den Bürger von Barackia wurde, ist nicht dokumentiert. •

Literaturnachweis: Berlinische Monatszeitschrift, Heft Nr. 8/97


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