Kreuzberger Chronik
November 2012 - Ausgabe 142

Die Geschäfte

Das Edeka-Erlebnis


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von Christian Koch

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Dieser Laden ist mehr als nur ein Lebensmittelgeschäft. Er ist ein Ort der Geheimnisse und der Lebensfreude

An der Ecke Graefestraße-Dieffenbachstrasse residiert die »Toy-Sariyildiz-Yildirim GbR«. Über der Ladentür aber steht ein einsames »E«, und links neben dem Eingang hat jemand »Edeka« an die Hauswand gemalt. Vor dem Geschäft bilden Obst und Gemüse ein appetitliches Spalier, wie bei den vielen anderen türkischen Gemüsehändlern Berlins auch. Drinnen allerdings erwartet den Besucher auf circa 90 Quadratmetern das besondere Einkaufserlebnis schlechthin. Deswegen wohl das »E« über der Tür, »E« steht nämlich für Einkaufsparadies.
Im Gegensatz zu gewöhnlichen Einkaufsmärkten gibt es im Einkaufsparadies zum Beispiel keinen Einkaufswagen. Dafür stapeln sich am Eingang die Körbe meterhoch. Für Einkaufswagen ist in diesem Laden leider gar kein Platz, da nämlich von den 90 Quadratmetern jeder Quadratzentimeter für vollgefüllte Regale benötigt wird. Diese fast giraffenhohen Regale nehmen auch deutlich mehr Raum ein als die Gänge. Gut so! Wer spazieren möchte, der kann das ja am Landwehrkanal oder in der Hasenheide tun.
Anders als in gewöhnlichen Supermärkten sind auch die hier arbeitenden Menschen: Es sind mindestens fünf, genau weiß das allerdings keiner. Vermutlich weiß das nicht einmal die Belegschaft selbst. Dass es sich um eine vielköpfige Belegschaft handeln muss, ist allerdings klar. Denn es gibt immer viel zu tun. Es vergeht kein Tag in diesem kleinen Supermarkt, an dem nicht einer dieser vielen Beschäftigten damit beschäftigt ist, irgendetwas auszupacken oder umzuräumen, kein Tag, an dem nicht irgendein Regal vergrößert oder verschoben werden muss, um Platz zu schaffen für ein noch größeres Regal...

Foto: Dieter Peters
Trotzdem ist nie genug Platz. Das ist anscheinend ein Naturgesetz an diesem dunklen Ort voller Geheimnisse und ohne Fensterscheiben. Die würden auch gar keinen Sinn machen, denn vor den Fenstern stehen ja auch Regale.
Das große Angebot im kleinen Laden hat zur Folge, dass die Kunden nicht selten vergessen, weshalb sie eigentlich gekommen waren. Auch hat wohl kaum ein Mensch im »E« nur das erworben, was er eigentlich hatte erwerben wollen. Immer kommt noch irgendetwas etwas dazu, das beim Durchsichten der Regale entdeckt wird. Oder es liegt da noch etwas unausgepackt und lockend im Weg herum, ganz sicher etwas ganz dringend Benötigtes.
Die Erlebnisvielfalt im »E« jedenfalls ist gewaltig und beinhaltet weitaus mehr als nur Lebensmittel. Haushaltswaren sowieso, das ist klar, aber dann ist da ja auch noch die Einkaufskorbanalyse und die Beratung. Meistens erhält man einen knappen Kommentar zum Inhalt des Korbes. Nicht etwa berlinerisch abfällig und rotzig, eher lebenserfahren und klug.
Wen so etwas nervt, der ist hier definitiv im falschen Geschäft. Die meisten aber mögen dieses Einkaufserlebnis der besonderen Art. Der Schriftsteller Andreas Steinhöfel hat diesem Handelsort in den drei »Rico & Oskar«-Romanen sogar ein mittelgroßes Denkmal gesetzt, und zwar vollkommen zu Recht. Denn das »E« ist ein Ort der Lebensfreude, ein Ort, der nicht ganz von dieser Welt ist.
Allerdings gibt es auch im »E« eine Kasse. Das ist etwas betrüblich, aber wohl betriebswirtschaftlich vonnöten. Der Bezahlvorgang wird jedoch durch einen Blick hinter den Tresen versüßt. Dort befindet sich das große Regal »Diverses«. Von der politisch unkorrekten Glühbirne über Heftpflaster und Batterien, deren Größen vermutlich nur noch in Raumstationen benötigt werden, bis zu Leckerlis für Kinder wie für Hunde, ist hier wirklich alles und noch viel mehr versammelt.
Foto: Dieter Peters

Denn die Kunst jedwedes Einzelhandels bestand schließlich schon immer in der Auswahl des Sortiments. Der Begriff Sortiment stammt ja vom Sortieren. Und natürlich bietet auch das »E« nur ein bestimmtes Sortiment. Wie sollte das auch anders sein, sie haben halt nur begrenzten Raum für ihre Regale. Dreizehn Stunden pro Tag hat diese Erlebniswelt geöffnet, sechs Tage die Woche. Einerseits prima, andererseits ist das auch schade. Hätte das »E« kürzere Öffnungszeiten, dann könnte die Belegschaft vermutlich neue Regalsysteme erfinden. Für immer neue Waren...

Und wer einmal an der Kasse steht und auf den mit simplem Kugelschreiber beschriebenen, kleinen Bon für‘s Pfandgut warten muss, der kann womöglich einen Blick ins Warenlager dieses geheimnisvollen Etablissements werfen. Unbeschreiblich! Unvergesslich, diese unbekannten Menschen, die dort, vor den Blicken Neugieriger geschützt, unermüdlich an neuen, noch größeren Regalen bauen... •


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