Kreuzberger Chronik
März 2011 - Ausgabe 125

Geschichten & Geschichte

Geschichten um den 18. März (2):
Die Gründung der Turngemeinde in Berlin



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von Werner von Westhafen

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1848 gründen 54 Männer die Turngemeinde in Berlin, den ersten Turnverein der preußischen Hauptstadt.


Kochhanns liebste Freizeitbeschäftigung war das Turnen, obwohl die Leibesertüchtigung auch zwei Jahrzehnte nach der Aufhebung des Turnverbots noch als Zusammenrottung von Freiheitskämpfern geächtet wurde. Kochhann war sogar Ehrenmitglied der »Berliner Turnerschaft« und legte in seinem Garten einen eigenen Sportplatz an.

Doch nicht alle, die an Reckstangen und Ringen hingen, waren politisch so engagiert wie Kochhann. Selbst in der am 16. April mitten in den Revolutionswirren gegründeten »Turngemeinde in Berlin« gab es Widerstand gegen die Widerständler. Während die einen ein geeintes Deutschland, Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit forderten, begnügten sich einfachere Naturen mit dem Turnen. Schon 1850 kam es zum Bruch: Die politisch motivierten Mitglieder gründeten den »Berliner Turner-Verein«, und die verbliebene Zweidrittelmehrheit des TiB beschloss, sich künftig aus der Politik herauszuhalten. Während sich die Abtrünnigen als Turngenossen bezeichneten und brüderlich duzten, legte man in der konservativen Turngemeinde Wert auf das »Sie« und galt bald als Club für »bessere Leute«. Heute ist der TiB nicht nur der älteste, sondern mit 3.900 Mitgliedern und 20 Fachverbänden auch einer der größten unter den 2.000 Sportvereinen der Hauptstadt.

Trotz des Vorsatzes, die Politik zu ignorieren, gründete eine Splittergruppe politisch engagierter Ruderer des TiB etwa 50 Jahre später zu Ehren des idealistischen Sängers der Freiheitskriege den »Ruderverein Friesen«. Nur ein Achter blieb dem unpolitischen Flügel des TiB, doch der Verein kaufte ein Jahr darauf ein Fischereigut bei Strahlau für die braven Ruderer. Später kam ein Bootshaus am Wannsee hinzu. Ganz unpolitisch jedoch war auch diese Riege nicht: Am 18. Juni 1922 fand im Bootshaus die »Kundgebung der deutschen Ruderer für das Deutschtum in den besetzten, abgetrennten und ab

gesonderten Gebieten« statt.

Nicht nur in Ruderbooten ging der TiB ins Wasser, auch in modisch knappen Dreiecksbadehosen, die allerdings 1933 verboten wurden. Jetzt wurde von den Sportlern Zucht und Anstand verlangt, und so bedauerte der TiB in seinem Mitteilungsblättchen, dass »auf einen Schwimmbetrieb nach Trennung der Geschlechter wegen Knappheit der Bäder leider verzichtet werden muß.« Also schwammen sie alle zusammen, Frauen, Männer, Jungen und Mädchen.

Handball, Faustball, Basketball, Fußball, Prellball, Hockey, Radfahren, Fechten, und natürlich das Turnen und die Leichtathletik: die Klassiker. 1926 flogen die ersten Tennisbälle über das Netz am Baumschulenweg, zehn Jahre später entstanden die Felder am Columbiadamm, die noch heute bespielt werden. Der Skilauf »war wegen der bekannten Schneearmut in unserer engeren Heimat« eine problematische Disziplin, doch traf man sich zu Skiwanderungen »im Grunewald und in den Havelbergen«. Verflüssigten sich die Kristalle, falteten die Mitglieder der »Ski- und Faltbootabteilung« ihre Boote auseinander und rutschten über das Wasser.

Einen ernsten Beigeschmack hatten die körperlichen Ertüchtigungsübungen aber auch im TiB. So probten am 7. Juni 1936 die Turnerinnen am Columbiadamm den Fahnenmarsch und den Olympiatanz für Hitlers gigantische Eröffnungsveranstaltung, und auch sie grüßten beim Betreten des olympischen Rasens den Diktator. Nach dem Krieg verboten die Alliierten die Zusammenkünfte der Turngemeinde, erst anlässlich des 100jährigen Jubiläums durfte sich der Verein neu formieren. Glücklicherweise hatte die geschäftstüchtige Vereinsführung stets Wert auf die finanzielle Unterstützung jüdischer Kaufleute gelegt, die verschiedene Ämter bekleiden. Die Liste semitischer Vorstandsmitglieder reichte als Nachweis der politischen Unabhängigkeit.

Nach all den Streitereien ist es verständlich, dass noch heute kein Sportverein darauf verzichtet, in seinen Statuten die politische Unabhängigkeit zu erklären. Doch dass sich die Sportbewegung oft nur zögernd an ihren Turnvater Jahn und ihre revolutionären Wurzeln in der Hasenheide erinnert, ist befremdlich. Immerhin erwähnt der TiB in einer Festschrift aus den politisch korrekten Siebzigerjahren die kämpferische Vorgeschichte und einen Mann, der in der Historie des TiB bis dahin fehlte: Gustav Adolf Techow. 1852 schreibt kein unbedeutenderer als Karl Marx an seinen Kollegen Engels, er habe »erfahren, daß der brave Techow eine Charakteristik über uns in die Schweiz geschickt, worin er weidlich schimpfte, speziell über Dich. Et je pense, daß Du eines Tages leurs pressentiments rechtfertigen wirst.«

Nicht ohne Anerkennung witzeln die beiden Denker über jenen Mann, der zu den Wortführern des Widerstandes gehörte und »beim Berliner Zeughaussturm das Zeughaus dem Volk übergeben hatte« -knapp zwei Wochen nach seiner Ernennung zum 1. Vorsitzenden des TiB. Wenige Tage später wurde er zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, konnte jedoch aus dem Kerker fliehen und sich der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee anschließen. Der Revolutionsgeneral, der seine sportlich-politische Karriere als braver Turnlehrer des »Centralinstitutes für den gymnastischen Unterricht in der Armee« begann, flüchtet nach London, trifft dort Marx und gründet eine Turnanstalt. Zwei Jahre später wandert der turnende Revolutionär nach Australien aus, um den »Melbourner Deutschen Turnverein« ins Leben zu rufen. In den Annalen des Vereins jedoch bleibt Techow, der »tatsächlich erste Vorsitzende der Turngemeinde Berlin«, bis dahin unerwähnt. •


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