Kreuzberger Chronik
April 2011 - Ausgabe 126

Kreuzberger
Philippe Fontaine

Ich habe 5000 Leute unter mir


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Dieter Peters

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Es ist wunderbar. Egal, wo Les Marlous auftauchen, ob am teuren Chamissoplatz oder an der billigen Kreuzberger Randlage, wo es aussieht wie im Wedding, oder wie in einem dieser unaufgeräumten Vorstadtviertel von Paris, egal, in welcher unpolierten und entlegenen Kneipe die Franzosen mit dem Akkordeon und der Gitarre auftreten: Der Laden ist plötzlich brechend voll. Voll von grauhaarigen Berlinern in ausgeleierten Jeans, voll von Französinnen mit taillierten Kostümen und geschminkten Lippen, voller junger Leute aus zwanzig verschiedenen Ländern, voller Tänzer, Raucher, Weintrinker, Biertrinker und Liebespärchen.

Und wenn dann Philippe Fontaine auf die Bühne steigt, in seiner schlaksigen Art, wenn er dann mit seinem noch immer etwas schüchternen Vorstadtlächeln das Mikrophon in die Hand nimmt und etwas vollkommen Unvorbereitetes sagt, dann gibt es den ersten Applaus – noch lange, bevor er eines dieser berühmten französischen Chansons angestimmt hat. Sie sind keine Wunderkinder, keine musikalischen Akrobaten, sie krächzen, lärmen, spielen falsche Akkorde und stolpern über ihre Kabel. Aber sie sind echt. Und wenn Philippe von Nathalie singt, dann liebt er sie mehr, als Gilbert Bécaud sie je liebte. Und wenn er von der Pariser Unterwelt singt, von Kneipen, Cafés und Vorstadtvierteln, dann spürt man die Achtung und den Respekt vor dem Milieu. Philippe Fontaine ist keiner, der sich verstellen und Märchen erzählen kann. Philippe Fontaine ist echt. Und Echtes ist selten geworden. Vor allem in der Welt des Showbusiness. Deshalb lieben sie ihn.

»Ich singe nicht, um Geld zu verdienen. Ach, Geld...« , sagt er, zieht die Mundwinkel herunter und winkt ab. Er schreibt auch nicht, um Geld zu verdienen. Er schreibt, weil er schreiben muss. Ein kleines Buch, »mit Bleistift und Rotwein.« Lauter Geschichten von Berlinern, zwinkert er, »Les fabuleuses de Fontaine.« Die Geschichte von der Taxifahrerin zum Beispiel, die in einer Uniform hinter dem Steuer saß. Oder die Geschichte von Helmut Peuthert, dem Boxer, Lastwagenfahrer, Zuhälter, Kohlenhändler in der Möckernstraße, der noch in die geheimen Kassen der Sparvereine in den Berliner Gangsterkneipen eingezahlt hatte, aus denen die Strohwitwen Geld bekamen, wenn das Familienoberhaupt wieder mal im Knast saß. Sein Wohnzimmer hieß der »Blaue Salon« und war ein berühmt-berüchtigter Treffpunkt der Zwielichtigkeit. Das Bier kostete fünfzig Pfennig, eine Woche lang musste Philippe täglich eine Runde ausgeben, bis der Kohlenhändler ihm endlich ein Zimmer vermietete. »Die wollten sehen, ob dieser Franzose überhaupt anpassungsfähig ist.«

Peuthert mochte den jungen Franzosen, und der Franzose mochte Peuthert, diesen überzeugten Kommunisten, der seinem Vater so sehr ähnelte. Marceau Fontaine hieß er, und er war ein Boxer und ein Lastwagenfahrer aus der Pariser Vorstadt, aus Arcueil, einem Viertel, »in dem es keine zwanzig Leute gab, die nicht irgendwann einmal im Knast waren. Lauter ehrliche Leute.«

Hier wurde er geboren, Philippe, an einem sonnigen Winternachmittag des Jahres 1967. Und hier wuchs er auf, wenn auch in einem Haus mit Garten und in einer Straße, die den Namen eines Literaturnobelpreisträgers trägt, in der Rue Anatole France. Mit einem Bruder und einer Schwester. Und der Vater sah aus wie Lino Ventura, der zwar kein Boxer, aber immerhin Europameister im Ringen war, bis er dann ein berühmter Schauspieler wurde und in »Wenn es Nacht wird in Paris« zum Drogenhändler Angelo mutierte. Die Mutter ähnelte niemandem, auf keinen Fall einer Schauspielerin, »Mütter sind immer viel schöner als irgendwelche Schauspielerinnen«.

Philippe Fontaine ging zur Schule, dann suchte er sich eine Arbeit in Paris, so wie die meisten aus Arcueil. Er lud Eisenbahnwaggons aus und verdiente 3.000 Mark im Monat, bis ihn eines Tages ein Freund zur Seite nahm und sagte: »Du musst hier weg. Hier wirst du höchstens Lagerleiter.« Auch Johannes, ein Theologe und Sozialarbeiter aus Bayern, der in dem Viertel viel zu tun hatte, mochte den pfiffigen Jungen mit der Zahnlücke. Er wollte dafür sorgen, dass »Philippe nicht auch noch im Knast landet«, und beschaffte dem Sohn des Boxers einen Job und ein Zimmer in einem friedlichen deutschen Städtchen. Doch Philippe Fontaine war gerade erst neunzehn Jahre alt, das Städtchen langweilig, und der junge Mann verdiente nur einen Bruchteil dessen, was er auf dem Markt in Paris verdient hatte. Es hätte schief gehen können. Aber Philippe ist Franzose, er traf ein Mädchen. Sie hieß nicht Nathalie, sie war auch keine russische Reiseführerin, und es war nicht das Café Puschkin, es war die Bahnhofsstraße Nr. 4 • in Appenweier im beschaulichen Schwarzwald. Aber er liebte sie. »Sehr!«

Foto: Dieter Peters
Und deshalb ist er immer noch in Deutschland. Mit Erfolg. »Ich hab jetzt

5.000 Leute unter mir!«, sagt der Friedhofsgärtner. Fontaine pflegt die Gräber

Foto: Privat
des Commonwealth War Grave Center an der Heerstraße und sagt den Angehörigen, wo es lang geht zu den Toten. Dass die Engländer ihre gefallenen Soldaten nicht nach Hause bringen, findet der Franzose befremdlich, aber Fontaine ist Europäer, Kosmopolit, er ist tolerant. Diese Engländer sind eben anders. Fontaine weiß das, er ist seit 20 Jahren mit einer Waliserin verheiratet, »eine schlimme Frau, sie raucht nicht, sie trinkt nicht – jedenfalls nicht wie ich -, und sie isst kein Fleisch. Wenn sie kocht, also, naja« – Fontaine hebt die Augenbrauen und schüttelt zwei imaginäre Pfannen, um die imaginären Grünkernpfannkuchen vor dem Anbrennen zu retten – »aber sie ist wunderbar. Ich liebe sie! Seit zwanzig Jahren. Ich liebe sie.«

Also ist er noch hier, in Berlin. Nicht, weil er diese Stadt so liebt. Auch wenn er ihr seine »Fabuleuse de Fontaine« gewidmet hat. Aber Fontaine ist Franzose genug, um auch Paris zu lieben. Oder London. Er wäre vielleicht längst nach London gezogen, aber Elaine ist ebenso überzeugte Vegetarierin wie überzeugte Kreuzbergerin. Sie erklärte ihn für verrückt, als er mit zehn CDs loszog, um Auftritte für Les Marlous in London zu organisieren. Aber wenn Philippe Fontaine etwas sagt, dann meint er es so und dann macht er es auch so. Vier Auftritte in der englischen Hauptstadt hatte er organisiert, zum Warmspielen trafen sich die Franzosen in einigen Kneipen in Kreuzberg. »Und es war überall voll, wir hatten richtig Spaß, und nach der Arbeit tranken wir natürlich was.« Eines Abends trank der Gitarrist zu viel, er stolperte und fiel. Am nächsten Tag hielt er sich die Schulter und verkündete mit schmerzverzerrtem Gesicht: »Ich kann nicht mit nach London!«

So wurde es nichts mit den Auftritten in England. Und deshalb ist Philippe Fontaine noch immer in Berlin. Manchmal geht er ins Bardeau in der Nollendorfstraße, »das ist so was wie die französische Botschaft, der hat hinten eine Liste mit sämtlichen französischen Adressen in Berlin«, Bäcker, Maler, Metzger, Autolackierer, »lauter Franzosen mit Telefonnummer. Sogar die Nummer von Gaetano Scognamiglio, dem Copyshop in der Bergmannstraße, hatten die.« Tagsüber arbeitet er auf dem englischen Friedhof an der Heerstraße, und abends geht er in die Bierpause in die Fidicinstraße. Dahin, wo noch echte Berliner sind. Er ist der einzige Fremde da, und als er kürzlich sagte, sie sollten doch endlich mal die Deutschlandfahne gegen die Europafahne austauschen, grinsten sie nur und vertrösteten ihn auf die nächste WM! »Ausgerechnet!« Fontaine lacht. »Auf jeden Fall leiste ich da echte Überzeugungsarbeit!«

Schon in Stuttgart, am Fließband, als eine Frau ihn fragte, warum er sein Geld eigentlich in Deutschland verdiene, sagte er: »Haben Sie schon mal was von der EU gehört?« – Daraufhin fragte die Frau den Chef: »Hascht Du wos von einer EU gehört?« Stuttgart war ganz nett, aber es war nicht die Welt. Berlin schon eher. Deshalb fuhren die ganzen Studenten auch ständig nach Berlin. Eines Tages, »ich glaube, 1988 war das«, fuhr Philippe mit. Auf eine Party. Man zeigte ihm die • Mauer und das Café Kaputt. Im Kaputt trank er sein »erstes Berliner Bier«, und als er wieder heim fuhr, verabschiedete er sich mit den Worten: »In einer Woche bin ich wieder da.« Er zog in die Nähe, in die Eylauerstraße Nummer 4, und pendelte fortan zwischen dem Kaputt und dem Orpheus hin und her. Irgendwann putzte er im Orpheus die Fenster, und im Kaputt stand er selbst hinter dem Zapfhahn.

Foto: Privat
Das Kaputt heißt jetzt »Martinique«, und das Orpheus »Alptraum«. Fontaine zapft kein Bier und putzt keine Fenster mehr. Fontaine recht Friedhofswege, macht das Frühstück für den Sohn, sitzt vor englischem Mittagessen, erholt sich in der Bierpause, und manchmal singt er von Paris und Nathalie. Seit diesem Abend im Bebop, dieser kleinen Jazzkneipe in der Willibald-Alexis-Straße. Sie sprachen über Musik, und Jacques sagte, die Franzosen seien einfach zu blöd, um ihre Musik zu verkaufen. Im Gegensatz zu Engländern oder Amerikanern. Als Philippe fragte, ob denn im Bebop nur Jazzmusiker auftreten, fragte Mareike, ob er auch Musik mache. »Klar!«, sagte Philippe. Philippe sagt ungern Nein. Und Mareike schrieb etwas in ihren Kalender, »also hatten wir jetzt einen Date.« Jacques schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Keiner kann sagen, weshalb es plötzlich so voll war im Bebop. Und warum alle so begeistert waren von diesen Franzosen: Von Marc am Akkordeon, von Jacques an der Gitarre und von Philippe am Mikrophon. Marc spielte acht Stücke, Jacques acht Stücke, und dann spielten sie zusammen. Marc kam dann auf die Idee, die Band Les Marlous zu nennen, so wie die kleinen Pariser Gangster, die für ein Taschengeld an den Ecken Schmiere standen, während die anderen groß absahnten. Einige Wochen später stand der Name auf einem kleinen Plakat: Les Marlous. Einen richtigen Proberaum hatten sie nie, nur eine Absteige in einem Hinterhof. »Im Winter machen wir den Gasherd in der Küche an, damit es ein bisschen wärmer wird, aber Schal und Mütze behalten wir trotzdem immer an.«

Im Orpheus, der jetzt Alptraum heißt, herrscht tropische Hitze. Wenn Philippe Fontaine an jenen Ort zurückkehrt, an dem er einst als Fensterputzer begann, wird es voll. Mit schüchternem Vorstadtlächeln betritt er die Bühne. Einem Lächeln, in dem immer auch eine Spur von Ernst steckt. »Wäre ich in Arcueil geblieben«, hat er einmal gesagt, »dann wäre ich Junkie, Knastbruder, oder tot.«

In dem Pariser Vorstadtviertel standen alle an der Wand, die Hände erhoben, die Polizei im Rücken. Philippe Fontaine aber steht jetzt auf der Bühne, die Hände am Mikrophon, vor ihm das Publikum. Er ist nicht in Paris geblieben. Er ist in Berlin. Und irgendwann an diesem Abend singt er dann dieses Lied vom kleinen Mr. William, der Frankreich verlässt und der in der Unterwelt von Manhattan landet. Eines Tages findet man ihn in der 13. Straße mit durchgeschnittener Kehle - und jeder im Raum ahnt, dass dieses Lied auch sein Lied hätte sein können. •


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