Kreuzberger Chronik
November 2010 - Ausgabe 122

Kreuzberger
Zwei Kreuzberger - Erster Teil

Jürgen Grage: So was vergisst man nicht


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von Hans W. Korfmann

Titelfoto: Michael Hughes

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Jürgen Grage ist kein lauter Mensch. Aber er ist zur See gefahren. Da braucht man akustisches Durchsetzungsvermögen. Auch dann, wenn die Stimmbänder vom vielen Rauchen und den langen Nächten des Landganges schon etwas kratzig geworden sein sollten.

Deshalb ist Jürgen Grage genau der richtige Mann für die Rolle des Auktionators bei der großen Kreuzberger Kunstversteigerung im Yorckschlösschen. Mit Witz und Schlagfertigkeit versucht Grage dann, die Werke all jener Kreuzberger Künstler unter den Hammer zu bringen, die es nicht in die großen Museen dieser Welt geschafft haben. Seine Stimme bahnt sich ihren Weg bis in die hinterste Ecke des großen Saales, die Auktion am ersten Advent ist Grages großer, alljährlich einmaliger Auftritt.

Und doch ist dieser Mann eigentlich ein stiller Mann. Als wäre da, trotz aller Welterfahrenheit und Abgebrühtheit, trotz der langen Nächte, die er als Zapfer hinter den Tresen berühmter Kneipen stand, trotz jener Jahre, in denen er mit seinen Trödelläden so etwas wie der König der Goltzstraße war, eine Schüchternheit zurückgeblieben, eine vornehme Zurückhaltung und eine instinktive Vorsicht.

Freunde erzählen, er sei am liebsten in Gesellschaft, die Einsamkeit läge ihm nicht. Vielleicht hatte er einmal zu viel von ihr. Jürgen Grage, geboren am Ende des Krieges, aufgewachsen in St. Georg, dem zwielichtigen Viertel hinter dem Hauptbahnhof, -»heute ne feine Adresse« – damals jenseits der Demarkationslinie, die das Hamburger Hafenviertel in Himmel und Hölle teilte. Aufgewachsen mit sechs Geschwistern und einer Stiefmutter, die ihrem Namen Ehre machte, und einem Vater, der mehr als streng war. Mit elf Jahren saß Jürgen im Kinderknast, »Schädlerstraße Nr. 16« in Wandsbek, »so was vergisst man sein Leben nicht«. Wegen eines geklauten Mopeds, denn das Geld war immer knapp in St. Georg, »neun Personen und ein Anschaffer«. Jürgen revoltierte, wollte weg, eines Tages zog er zur Großmutter, verschwand mit dem Fuffi, von dem er einkaufen sollte, und gab alles auf dem Jahrmarkt neben der Reeperbahn aus.

Da traf er Jutta, »besonders schön war se nich«, aber sie glaubte ihm, dass er schon 16 sei, und nahm ihn mit. Sie hatte ein Zimmer in den Riverkasematten, einer Kneipe mit Zimmervermietung, und sie erzählte überall, er sei ihr Neffe, und alle waren ganz entzückt über den kleinen Neffen. Morgens drückte sie ihm »ein Pfund in die Hand und verschwand«, er wusste nicht, was sie trieb, bis sie ihn eines Tages mitnahm zum Hafen, wo sie von Schiffskutter zu Schiffskutter ging, und jedes Mal für eine Viertelstunde unter Deck verschwand, während Jürgen draußen wartete. »Muss ein hartes Brot gewesen sein!«, sagt Jürgen Grage, »Jutta Kass«, auch ihren Namen kennt er noch, »so was vergisst man nicht«.

Drei Wochen später war er wieder zurück bei der Stiefmutter. Aber auf die Schule wollte er jetzt nicht mehr. Er wollte Geld verdienen, wollte weg von Zuhause und bewarb sich bei der Insel, einem der besten Restaurants von Hamburg, »und die wollten mich nehmen«. Allerdings hatte Jürgen verschwiegen, dass er noch zur Schule ging, und nun musste ein Psychologe bestätigen, dass die Schule für einen wie Grage zwecklos wäre. Der Schulpsychologe aber kam zu dem Schluss, dass der Junge das Zeug zum Abitur hatte. Doch Jürgen wollte nur noch weg, sein letztes Zeugnis dokumentierte die Tage seiner Abwesenheit, »ich glaube, es waren 136 Fehltage«.

Und im Hafen lagen die Schiffe. Mit fünfzehn stach er in See, war Jahre unterwegs, meistens »auf kleinen Pötten«, Frachtern mit 3.000 Tonnen, die noch ordentlich schaukelten im Sturm. Aber Jürgen Grage haute so schnell nichts um, er bewahrte seinen aufrechten Gang, auf hoher See und also auch an Land. »Das Trinkenkönnen hab ich früh gelernt«. So vergingen Jahre auf See, doch kein einziges Foto ist erhalten von den Reisen, geblieben sind nur noch die Geschichten, »500 Geschichten«, eine davon hat er bereits aufgeschrieben. Nicht die von dem Seemann mit dem Elefantenrüssel, vor dem die Nutten in jedem Hafen gleich davon liefen, bis er eines Tages im Panamakanal eine österreichische Puffmutter fand, die ein Herz für ihn hatte. Er kam nie mehr zurück an Bord, »der ist vielleicht heute noch da!« Auch nicht die Geschichte von dem polnischen Tripper, den er sich irgendwo eingefangen hatte, und den diese Ärztin in Santiago Domingo mit einer Spritze bekämpfen wollte, die so groß war, als wäre der Seemann ein Pferd, und die ihm gleich noch die Mandeln herausoperierte und für zwei Wochen in ein Luxushotel einquartierte, auf Kosten der Reederei, in einem Zimmer mit Fernseher. »Da hatte ich ständig die Bude voller Leute«. Auch nicht die Geschichte vom Sturm im Golf von Biskaya, »Mann, das hat geschaukelt, und ich musste den Gang wischen, der ständig voller Wasser lief. Dann hab ich endlich so ein kleines, mit Kalk verschlossenes Abflussloch im Gang entdeckt, und bevor ich die ganze Nacht mit dem Wischer da durchgehe, mach ich doch das Loch wieder frei! Dummerweise hatten sie das Abflussrohr abmontiert, und nun stand die edle Maschine aus blitzblankem Messing, das einzige Schmuckstück von dem Kahn, komplett unter Wasser. Das gab nen Ärger, Mann, Mann, Mann....«

Das Leben war abenteuerlich, aber 1964 hatte er auch davon genug. Wieder wollte er fort, und da Karl-Heinz, sein Bruder, in Berlin war, holte sich Jürgen das Geld für die Seesonntage, das die Reederei auf ein Konto gezahlt hatte, und fuhr nach Berlin. Es dauerte keine drei Monate, bis Jürgen und sein Bruder die 15.000 Mark in der Dicken Wirtin am Savignyplatz ausgegeben hatten. Grages erstes Zimmer war in der »Wrangelkaserne«, lange Gänge mit kleinen Zimmern, für die
nie jemand Miete bezahlte, aber rausgeworfen wurde man auch nicht.« Seinen ersten Job an Land fand er als Zapfer im Leierkasten. Eines Nachts stand Gerhard Tenzer am Tresen, ein Mann, der wie er aus Hamburg kam. »Eigentlich waren wir beide nur einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt gewesen«, aber der eine wohnte dahinter, der andere davor. Die Beiden hätten sich längst treffen können, damals, im Goldenen Kegel auf der Reeperbahn, wo Jürgen und Gerhard Kegel aufstellten, um ein paar Groschen zu verdienen. »Jürgen war ja schon damals der Padrone, der durfte samstags dran und verdiente mindestens das Doppelte wie ich.« Doch sie trafen sich nie, es dauerte zwanzig Jahre, bis sie sich in Kreuzberg gegenüberstanden.

Die Gesellschaft im Leierkasten gefiel dem Seemann. Er blieb zwei Jahre. Dann zapfte er in Hertha Fiedlers Weltlaterne, später in der Malkiste in der Blücherstraße, wo Schröder-Sonnenstern und Karl Dall mit Insterburg & Co für Stimmung sorgten. Dann machte er seine eigenen Kneipen auf, Kneipen, deren poetische Namen nach den wilden Siebzigern klingen: Dschungel, Meisengeige, Delirium, Ruine, Roxy... - lauter Legenden.

Egal, wo Jürgen Grage hinging, die Kundschaft war ihm auf den Fersen, sie folgte ihm von Kneipe zu Kneipe. Was jene, die Grages vermeintliche Goldgruben übernahmen, wenn er wieder einmal weiterzog, nicht selten betrübte. Besonders der Nachfolger der Meisengeige muss gelitten haben. Als Grage ihn eines Tages in seinem leeren Lokal besuchte und dann auch noch beim Billard schlug, nahm er eine Machete von der Wand und versuchte, Grages Schädel zu spalten. Grage bekam die Rechte seines Angreifers zu fassen, doch als der das Messer zurückzog, durchtrennte er sämtliche Sehnen von Grages Hand. Blutüberströmt trat der Seemann die Flucht an, kein Taxi wollte »sich die Sitze versauen lassen«, vor dem Krankenhaus brach er endlich zusammen. Einige Tage später aber stand der Angreifer mit einem Blumenstrauß in der Tür des Krankenzimmers. Vor ihm, am Krankenbett, lauter Freunde, die Rache schworen und den neuen Wirt der Meisengeige augenblicklich in Stücke zerrissen hätten, wenn sie geahnt hätten, dass er just in diesem Augenblick hinter ihnen stand. Aber Jürgen Grage ist kein lauter Mensch. Jürgen Grage kann ganz leise sein. »Ich hab kein Wort gesagt, bis er wieder aus dem Zimmer draußen war«, sagt er und betrachtet seine Hand. Vierzehn Mal ist sie operiert worden, aber so richtig funktioniert sie immer noch nicht.

Zehn Jahre war Grage Wirt und sammelte noch einmal 500 Geschichten, Geschichten von Schlägereien, Liebeleien, Säufereien, Geschichten von Künstlern, Terroristen, Bohémiens, bis er, so wie sein
Lehrmeister Mühlenhaupt, Trödelhändler wurde. Ein Antiquitätenhändler auf der Goltzstraße hatte ihn gefragt, ob er nicht ein paar Tage für ihn einspringen könne. Wenig später gab es einen Trödel mehr in der Straße. Grage hatte ein paar Meter weiter einen Laden angemietet, und es dauerte nicht lange, da waren es vier zwischen der Franken- und der Barbarossastraße. Und da waren es schon 1.000 Geschichten aus 1.000 Kreuzberger Nächten. Nur eine fehlte noch: Gerlinde. Eines Tages stand sie da und sagte sich: Das ist er!

Von da an war Jürgen Grage kein einsamer Seemann mehr. An seiner Seite war Gerlinde, im Laden und im Leben. Sie arbeiteten zusammen, kochten zusammen, tranken zusammen, saßen Weihnachten zusammen mit Freunden unter dem Christbaum, mit lauter lauten Kneipenbekanntschaften, lauter Leuten, die kaum Geld und keine Kekse hatten. Und Gerlinde buk Kekse. Kekse für alle. Kekse für die heimatlosen Kneipengänger und die heimatlosen Künstler.

Künstler wie Jürgens Bruder Karl-Heinz, der Anfang der Achtzigerjahre auf die Idee mit der Bilderversteigerung gekommen war. »Alle bekommen Weihnachtsgeld, nur wir Künstler nicht«, sagte Karl-Heinz. Und weil Jürgen auch einmal im Yorckschlösschen gezapft hatte, fand irgendwann die erste große Bilderversteigerung im Schlösschen statt. Und irgendwann einmal, als Karl-Heinz´ Stimme kläglich versagte, weil eine dieser Kreuzberger Nächte wieder viel zu lang gewesen war, da sprang sein Bruder Jürgen ein. Und Jürgens Stimme versagte nicht, sie bahnte sich ihren Weg durch den Saal, und die Leute kauften wie verrückt.

Heute ist sein Bruder nicht mehr da. Nur noch seine Bilder sind da. »Ich bring jedes Mal zehn davon mit runter, aber neun nehm´ ich dann doch wieder mit hoch.« Weil jedes Mal, wenn Jürgen den Namen seines Bruders aussprechen muss, ihn so ein Gefühl überkommt. Weil diese laute, seeerprobte Stimme dann plötzlich leiser wird, weil sie es plötzlich nicht mehr schafft bis in die hinteren Ecken. Und ganz vorne, so hat mal einer erzählt, da habe jemand sogar eine Träne im Augenwinkel des Seemanns gesehen.

Zwanzig Jahre ist Karl-Heinz tot. Jürgen Grage ist einer der drei Ehrengäste des Yorckschlösschen geworden, der abends am Stammtisch sitzt und Geschichten erzählt. Geschichten aus 1001 Kreuzberger Nacht. Es ist, als hätte ihn die wilde See endlich in ruhigere Gewässer gespült. Nach all den Jahren, in denen es ihn immer weiter trieb, weg von Zuhause, aufs Meer hinaus, von Hamburg nach Berlin, von einer Kneipe in die andere... Eine ewige Unruhe. Auch dann noch, als Gerlinde schon neben ihm war. Sie hatten den ganzen Tag gearbeitet, tranken in der Nulpe ihr Feierabendbier, als sich Gerlinde für zwei Minuten in die hinteren Gemächer der Kneipe zurückzog. Als sie wieder an den Tresen kam, sah sie, wie ihr Seemann gerade zur Tür hinaus wollte. Es war nicht das erste Mal, dass er die zwei Minuten ihrer Abwesenheit auf der Toilette nutzte, um sich aus dem Staub zu machen. Und um für einige Tage nicht mehr aufzutauchen. Aber an diesem Abend schnappte sich Gerlinde einen Barhocker, lief hinter ihm her und holte aus.

Fortsetzung folgt. •


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