Kreuzberger Chronik
Juni 2010 - Ausgabe 118

Herr D.

Der Herr D. trifft den Herrn Jesus


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von Hans W. Korfmann

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oder
warum der Herr D. den Kreuzbergern verzieh


Lokalpatriotismus befremdete den Herrn D. Es ärgerte ihn, dass diese Borniertheit auch in den Metropolen so weit verbreitet war. Wobei sich die Städter nicht damit zufrieden gaben, Pariser oder New Yorker zu sein. Sie bildeten auch innerhalb der Städte noch kleine, verschworene Gemeinden, und in Berlin war »Kiez« das Codewort der alteingesessenen Kreuzberger, vor dem meist das besitzergreifende Fürwort »unser« stand. Deshalb hielt es der Herr D. für wichtig, »seinen« Kiez des öfteren zu verlassen. Bei einem dieser Ausflüge traf er Jesus. Eigentlich hieß er Juso, aber das sei Galicisch, auf Spanisch müsse man »Jesus« sagen. Jesus stand mit dem Mikrophon in der Hand im Reisebus und erzählte von der schönen Heimat, von Kelten, Wikingern, Göttern, Wildpferden, Fischern, Musik und Meeresmuscheln, schlug Brücken nach Indien, Australien, England, Frankreich und Deutschland und pries Galicien als das »Land der Tausend Flüsse« und die Mutter alles Seienden.

Nach jeder Pause begann er pathetisch mit »Ladies and Gentleman«, als stünde er in Las Vegas. Ab und zu warf er einen melancholischen Blick auf die grünen Hügel seiner geliebten Heimat. Jesus war der beste Fremdenführer Galiciens. Doch er würde den Job bald aufgeben. »Ich gehe in die Politik«, sagte Jesus. »Da verdient man besser!«

Da wurde der Herr D. skeptisch. Und als Jesus dann von den Muscheln begann, wurde er ihm unsympathisch. Der Herr D. mochte keine Muscheln. Aber die »Galicier standen schon immer auf Muscheln.« Wenig später saß die Reisegesellschaft in einem Restaurant am Meer. Jesus träufelte Zitronensaft auf das walnussgroße, schleimige Innere einer Jakobsmuschel und schlürfte sie – flopp – restlos aus der Muschelschale. Dann sagte er: »Galicien ohne Muscheln, das ist unvorstellbar«. Von nun an sah der Herr D. überall die großen Fächer der Jakobsmuschel. Am Straßenrand lockten sie die Autolenker zum Tanken an die Zapfsäulen, markierten den Wanderweg nach Santiago de Compostela, die Dächer kleiner Kapellen waren mit muschelförmigen Schindeln bedeckt, selbst Springbrunnen, Waschbecken und Klodeckel hatten Muschelformen, und wo immer der Reisebus hielt, wurden Muschelketten angeboten, Muschelringe, Muscheldöschen...

Auch jenseits der Grenze seien die Bedingungen für Muscheln ideal. »Doch die Portugiesen«, sagte Jesus und saugte – flopp -das Fleisch einer Jakobsmuschel ein, »die Portugiesen... naja... Portugal, das sagt doch schon der Name, das war doch schon damals nicht mehr als der Port der Galicier.« Der ist ja schlimmer als die Kreuzberger, dachte der Herr D. und ging fortan mit den Kreuzberger Lokalpatrioten nicht mehr allzu streng ins Gericht.

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