Kreuzberger Chronik
Dez. 2010/Jan. 2011 - Ausgabe 123

Essen, Trinken, Rauchen

Wein oder Nichtwein


linie

von Horst Unsold

1pixgif
Sie wollten einen Wein trinken. Wein gab es jetzt überall in der Gegend. Aber sie konnten sich trotzdem nicht einigen. »In der Nostitzstraße, da wo früher mal das La Boheme war, wo Gino früher Akkordeon spielte, und wo später so eine kleine Pizzeria war, in der keiner saß, obwohl die doch so viel billiger war als alle anderen Pizzaverkäufer hier, da ist jetzt ein neuer Italiener drin....«

»Und?«
»Der hat guten Wein, ich war schon zweimal da...«
»Stimmt. Da war ich auch schon mal...«
»Ich mein, die Gäste sind ja ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Lauter Neuzugänge. Komisch angezogene Leute, die du früher nie hier gesehen hättest.«
»Stimmt.«
»Manchmal sitzen da echt Typen mit echt grellen Krawatten, wo du glaubst, die kommen grad aus der Chefetage von Siemens oder so...«
»Stimmt!«
»Aber der Wein ist gut«
»Trotzdem: Diese Typen, die nur hier herkommen, um Geld zu machen, die überhaupt nix mit diesem Kiez zu tun haben, die sich dann einfach in unsere Wohnungen und unsere Lokale und unsere Geschäfte setzen, die können mir gestohlen bleiben.«

»Ja, aber der Wein ist gut!«
»Mag ja sein. Aber was nützt mir der schönste Wein, wenn die Leute Scheiße sind...«
»Na komm schon...«
»Ohne mich, ich pfeife auf den Wein. Und auf den Wirt auch. Der kommt doch nur nach Kreuzberg, um Geld zu machen. Ich hab hier mal einen guten Hauswein bestellt. Einen guten Hauswein, sag ich, und dann bringt die mir einen Wein, wortlos, und nimmt mir am Ende für 0,1 Liter sechs Euro fuffzig ab. Sechsfuffzig! Ohne einen Ton, als wär das die natürlichste Sache der Welt.«
»So ist das jetzt eben hier in Kreuzberg...«
»Egal, ich komme trotzdem nicht mit. Außerdem hab ich kürzlich mal einen Wagen von Getränke Lehmann da vorfahren sehen. Auf dem Karton stand: Pinot Grigio. Ich mein, ich will ja nicht behaupten, dass der Wein für sechsfuffzig von Lehmann war. Der Wein war gut. Aber ich geh trotzdem lieber zu Lehmann, und wenn ich mit meiner Flasche auf der Straße sitzen muss.« •

zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg