Kreuzberger Chronik
Dez. 2010/Jan. 2011 - Ausgabe 123

Herr D.

Der Herr D. und der Schwabe


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von Hans W. Korfmann

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Der Schwabe kam herein, setzte sich zum Herrn S. und zum Herrn D. an den Tisch, bestellte in fehlerfreiem Hochdeutsch »ein Pils« und schwäbelte anschließend so stark, dass die beiden Herren seinen Ausführungen nur folgen konnten, indem sie die weiten Strecken zwischen den wenigen im rauschenden Redefluss des Schwaben auftauchenden Rettungsinseln bekannter Stichworte wie »Integrationsverweigerer« und «Einwanderungsgesetze« mit Phantasie überbrückten. Obwohl die beiden Freunde zuvor in ein angeregtes Gespräch über französische Frauen vertieft gewesen waren, befanden sie sich innerhalb kürzester Zeit in einer politischen Debatte, und als sie spät am Abend im Heidelberger Krug eintrafen, war die Runde ewig junger 68er auf sieben Personen angewachsen.

»Wenn der Eigenbedarf anmeldet, dann müsst ihr raus aus der Wohnung. Alle Kreuzberger müssen jetzt raus aus Kreuzberg...«
»Und rein kommen dann solche Integrationsverweigerer«, sagte der Schwabe, »Chinesen, Amerikaner, Fischköppe, Schwaben... - lauter solche Leute, die einen anpöbeln, wenn man ne Zigarette raucht. Solche Arschlöcher ziehen jetzt in unsere Wohnungen rein...«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du noch drei Jahre in der Wohnung bleiben kannst!«, sagte der mit der Glatze. »Die wollen Geschäfte machen, sanieren und verkaufen. Ihr müsst da raus...«

Stille trat ein, Zigaretten qualmten, die Kellnerin suchte nach einer CD, ein Hund schnüffelte an Hosenbeinen. Dann fragte jemand: »Der Mieterverein vielleicht?«
»Ach hör doch auf!« sagte der Schwabe. »Es gibt keinen Mieterverein mehr. Der ist komplett von der SPD unterwandert. Die echten Widerständler sind längst aussortiert.«
»Und keiner unternimmt was gegen diese Scheiße. Die Politiker nicht, der Mieterrat nicht, nicht mal wir. In den Siebzigern wär das anders gelaufen.«
»Obwohl es da noch Politiker gab, die Ziele hatten und Meinungen vertraten. Heute gibts nur noch Jobs: Schröder und Fischer handeln mit Pipelines, und Roland Koch wird Chef eines Baukonzerns, dem er zuvor einen 80 Millionenauftrag verschafft hat. Kaum ein Jahr nach seinem Ausstieg aus der Politik!«
»In den Siebzigern«, sagte der mit der Glatze, »da hätten diese Volksverräter jetzt auf der Baader-Meinhof-Liste gestanden«. Wieder trat betretenes Schweigen ein. Und ein bisschen hatte der Herr D. das Gefühl, dass man in diesem Moment nicht nur um die verlorenen Wohnungen trauerte. •


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