Kreuzberger Chronik
Dez. 2010/Jan. 2011 - Ausgabe 123

Geschäfte

Schwarze Risse


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von Eckhard Siepmann

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Im Mikroklima des Mehringshofs hat einer der letzten politischen Buchläden überlebt

Als die Mauern und Fassaden Kreuzbergs noch grau waren und leer stehende Häuser von einer nach Freiräumen hungrigen Jugend besetzt wurden, entstand das selbst verwaltete Kultur-, Arbeits- und Lebenszentrum Mehringhof. Nach dem Ton-Steine-Scherben-Motto »Das ist unser Haus« wurde das große Fabrikgebäude Gneisenaustraße 2a zu einem bekannten Treffpunkt der linken Szene mit Theater und Cabaret, einer Schule für Erwachsenenbildung, Kneipe, Gesundheitszentrum, Büros für Netzwerke, Rechtsanwälten, Verlagen, einem Fahrrad- und einem Buchladen. »Legal, illegal, scheißegal« stand an den Kreuzberger Hauswänden und drückte das Bedürfnis nach einem unabhängigen Leben aus. Es war die Zeit des Punk, der Hausbesetzer und der linken Gruppierungen, die einen Ort brauchten, um Strategien im Kampf für eine solidarische Welt zu entwickeln.

Geht man heute durch das offene Eisentor mit der plakatbeklebten Einfahrt, läuft am Clash vorbei und tritt in den hintersten Gewerbehof, ist man erstaunt, wie viele der Gründungs-Läden und -Initiativen des alten Mehringhofs nach drei Jahrzehnten immer noch existieren. So auch der im Souterrain zwischen der Remise des Türkischen Arbeitervereins und dem Fahrradgeschäft liegende weiß gekalkte Buchladen mit dem poetischen Namen Schwarze Risse. Er wurde 1980 als ein Infozentrum vor allem der Anti-AKW-Bewegung gegründet und nannte sich damals »Freunde der Erde«. Mit den Jahren entwickelte er sich zu einem kollektiv geführten politischen Buchladen, der bald bundesweit bekannt war als ein Ort der Kommunikation und Vernetzung. Frieder Roertgen ist einer aus dem Kollektiv der drei Frauen und zwei Männer, die hier arbeiten. Hierarchien sollte es nie geben, jeder bringt ein, was er kann und will. Manche leben ausschließlich von der Arbeit im Buchladen, andere haben noch weitere Jobs. Frieder arbeitet seit 25 Jahren dort, andere erst drei.

»Unser Angebot ist vor allem im politischen Bereich sehr umfangreich und anspruchsvoll, Themen wie Feminismus, NS-System und Widerstand, Politische Theorie, Arbeiterbewegung, Entwicklungspolitik und Internationalismus füllen ganze Regale«, erzählt Frieder Roertgen. Auch linke Zeitschriften, die früher überall herumlagen, sind hier zu finden. In der Literaturabteilung sind politisch korrekte Autoren wie Herbert Achternbusch oder Peter Paul Zahl vertreten, und das Angebot von ins Deutsche übersetzten Romanen aus Afrika, Asien und Nahost ist in den Regalen von Schwarze Risse so groß wie in keinem anderen Berliner Buchladen. •

Foto: Edith Siepmann
Doch ist nicht alles in grellem Rot und dicken Lettern geschrieben, es gibt Kinderbücher und es gibt Berlin-Literatur. »Aber das Besondere an unserem Laden ist natürlich schon, dass er ein politischer Ort und Teil der politischen Infrastruktur ist. Das bringt zwar kein Geld, aber Leben in die Bude und Spaß. Wir verkaufen Buskarten zu Demos, wie gerade bei der Castor-Blockade. Wir sind Verteiler für Plakate, Flyer und Buttons.« Genau in diesem Moment treten zwei junge Männer in den Laden und packen sich Flyer und Plakate für die nächste Antifa-Demo ein.

Schwarze Risse ist mehr als nur ein Buchladen. »Wir organisieren Veranstaltungen und Lesungen zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen, und wir haben 2001 gemeinsam mit anderen linken Buchläden in Deutschland den Verlag Assoziation A gegründet.« Im Dezember erscheint dort das Buch »Reclaim Berlin« zur Gentrifizierung und den sozialen Kämpfen in der Stadt. «Wir grenzen hier niemanden aus, aber wir sind ausdrücklich auch ein Ort für linksradikale Positionen.« Dieses Selbstverständnis bescherte dem Buchladen in diesem Jahr bereits sechs Razzien des Landeskriminalamtes inklusive Beschlagnahme der Computer, ohne die der Laden praktisch lahm gelegt ist.

Auch wenn die Anzahl der linken Buchläden in Berlin sich schon erheblich reduziert hat, sieht sich das Kollektiv im Mehringhof nicht als Dinosaurier aus guten alten Zeiten. Dazu sind die Themen in den Regalen zu aktuell. Rassismus, Gentrifizierung und Wirtschaftskrise, die Risse in der Gesellschaft – sie spiegeln sich in den Nachfragen auch junger Kunden des Jahres 2010 wider. Neben all den neoliberalen Zeitgeistern gibt es sie weiterhin, »die Linken, die Autonomen und die Anarchos«, die sich mit den Sachzwängen eines scheinheiligen ökonomischen Systems nicht abfinden wollen. Und die vielleicht aus aktuellem Anlass die plastikverschweißten blauen Bände auf dem obersten Regal der Abteilung »politische Ökonomie« in aller Ausführlichkeit lesen wollen.

Vor acht Jahren eröffnete das Kollektiv in einem damals noch besetzten Haus in der Kastanienallee einen zweiten Laden, doch das Umfeld in Prenzlauer Berg hat sich schnell verändert. Seit der Ankunft von Mercedes-und Porschefahrern sind die Umsätze zurückgegangen. »Hier in Kreuzberg könnte es ähnlich werden. Die Anwohnerstruktur verändert sich. Außerdem spüren wir, wie alle anderen kleinen Buchläden auch, die Konkurrenz durch das Internet.« Ein weiteres Problem in den Zeiten schwindender Popularität ist die Lage des kleinen Buchladens: Im zweiten Hinterhof kommt so schnell niemand vorbei. Man muss wissen, dass es diesen Laden dahinten gibt. Manche wissen es. »Wir haben Stammkunden, für die wir ihre Medizinkompendien bestellen.« Und natürlich erhält man hier auch nach spätestens vierundzwanzig Stunden den letzten Simmel-Band, wenn es denn sein soll. Schwarze Risse kann eben auch ein stinknormaler Buchladen sein. •

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