Kreuzberger Chronik
Mai 2009 - Ausgabe 107

Geschichten & Geschichte

Der Tod im Tunnel


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von Bernd Selig

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Die Geschichte des zweiten Weltkrieges wurde detailliert beschrieben. Doch um die Ereignisse der letzten Kriegstage ranken sich noch immer Gerüchte. Eine erzählt von der Sprengung des S-Bahn.

ES WAREN die letzten Kriegstage, Berlin war ein Trümmerhaufen, selbst die Keller boten der Bevölkerung kaum noch Schutz, einige Kreuzberger richteten sich in den Schächten der S-Bahn häuslich ein. Doch wenige Tage vor der Kapitulation wurde der Unterschlupf zur tödlichen Falle.
Bis heute ist ungeklärt, was genau am frühen Morgen des 2. Mai 1945 geschah und wie viele Menschen in den Tunneln umkamen. Vermutet wird, dass die SS offensichtlich in einer Mischung aus Zerstörungswut und Angst vor dem Eindringen der Russen in der Nähe der Möckernbrücke, genau unter dem Landwehrkanal, eine Sprengung durchführte und weite Strecken des Tunnelsystems unter Wasser setzte. Die Männer hatten nicht nur eine Stelle ausgesucht, die unter dem Kanal lag, sondern an der zudem gleich sechs Verkehrswege zusammentrafen. Wenn es die Nazis waren, müssen sie Unmengen von Sprengstoff gezündet haben.
Als relativ zuverlässig gilt ein Bericht der Reichsbahndirektion, in dem es heißt, dass um 7.56 Uhr eine »gewaltige Detonation die Gegend der Kreuzung des Landwehrkanals mit dem Tunnel der Nordsüd-S-Bahn« erschütterte. »Sekundenlang bebte die Erde, dann wurden im Kanal die Wassermassen und auf den nördlichen und südlichen Uferstraßen das Straßenpflaster, Erde, eiserne Rohre usw. in die Höhe geschleudert. (...) Augenzeugen beobachteten, wie das Wasser des Kanals, das erst nach beiden Seiten aufstauend ablief, wieder nach der Kreuzungsstelle zurückflutete und unter Bildung großer Wirbel in die Tiefe gezogen wurde.«
Fotografien belegen, dass das Wasser noch am Potsdamer Platz und an der Friedrichstraße bis unter die Decke stand, selbst der Bahnhof am Alexanderplatz war geflutet. Die Ereignisse in der Unterwelt regten zahlreiche Autoren zu phantasievollen Schilderungen an. Jürgen Thorwald schreibt von »Schreien, Weinen, Flüchen. Menschen, welche um die Leitern kämpfen, die durch die Luftschächte an die Oberfläche führen. Gurgelndes Wasser flutet durch die Schächte. Die Massen stürzen über die Schwellen. Lassen Kinder, Verwundete zurück. Menschen werden zertreten. Das Wasser faßt nach ihnen.« Auch Erich Kuby schildert die vor dem Wasser flüchtenden, stürzenden Menschen im Tunnel, »aber das Wasser ist schneller. Wer unten zu liegen kommt, ist verloren. Dann ist Totenstille. Leichen schwimmen dem Anhalter Bahnhof und der Friedrichstraße« entgegen.

Einer der ersten Berichte über das Wasser und die Menschen im Tunnel stand am 11. Juni in der Berliner Zeitung. Dort wird ein dramatischer Augenzeugenbericht vom »Wettlauf mit dem Tode« zitiert. »In der Frühe des Dienstages erschien ein Major bei uns. Er hielt eine Ansprache: Meine Lieben, Sie müssen jetzt durch den U-Bahn-Schacht den Bunker verlassen. Meine Soldaten werden Sie sicher zum Stettiner Bahnhof bringen, der frei von Russen ist. Dort erwartet Sie ein warmes Essen, Kaffee und Wasser. (...) Um 9 Uhr wurden wir 4.000 bis 5.000 Überlebenden in den S-Bahn-Schacht getrieben. Es war völlig verqualmt. Massenweise brachen die Menschen erstickend zusammen. Als wir den Bahnhof Potsdamer Platz erreichten, hatte sich der Zug schon gelichtet. (...) Jeder Schritt mußte mit irrsinnigen Qualen und Anstrengungen erkauft werden. Die SS-Mannschaft rief uns zum Gänsemarsch zusammen. Der weitere S-Bahn-Schacht steht bis zu 1,5 Meter unter Wasser, ungefähr 300 Meter lang. Wem sein Leben lieb ist, der muss hier durch. So trieb man uns in das langsam ansteigende Wasser hinein. Ich hörte Schreie, die mir noch heute die Ohren zerreißen. (...) Auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße schleuste man uns in den U-Bahn-Schacht hinüber und führte uns weiter zu dem U-Bahnhof Stettiner Bahnhof. (...) Von den 5.000, die den Bunker am Anhalter Bahnhof verlassen hatten, erreichten zwölf das Ziel.«
Tatsächlich häufen sich in den Akten am 1. und 2. Mai Vermisstenanzeigen wie diese: »Mein Vater ist am 30. April im Bunker am Anhalter Bahnhof gestürzt. (Oberschenkelfraktur und Gesichtsverletzung rechts). Bei der Räumung des Bunkers am 1. Mai 1945 sollte der Abtransport durch die S-Bahnschächte in Richtung Stettiner Bahnhof erfolgen. Seitdem fehlt jede Spur von meinem Vater«.
Doch sowohl die Zahlen über die Toten als auch die Angaben zum Zeitpunkt der Sprengung klaffen oft weit auseinander. Das Amt für die Erfassung der Kriegsopfer vermutet »zwischen etwa 50 und 15.000« Toten. Das Bestattungsamt Kreuzberg spricht »von etwa 1-2.000 Leichen aus dem Bahnschacht.« Bei den Reparaturarbeiten zur Wiederherstellung des Tunnels, die bereits am 25. Mai 1945 begannen, wurden ca. 100 Tote geborgen. Allerdings wurde berichtet, dass bereits vorher viele Leichen aus dem Kanal geborgen und bestattet wurden. Eine Augenzeugin erinnert sich, dass allein am Anhalter Bahnhof etwa 100 Tote auf dem Hafenplatz beerdigt wurden.

Auch eine Untersuchung des Kreuzbergmuseums, das die letzten Zeitzeugen interviewte, um fünfzig Jahre später doch noch etwas Licht in das Dunkel der Berliner S-Bahn-Tunnel zu bringen, scheiterte an den widersprüchlichen Aussagen. Die Sprengung des S-Bahntunnels bleibt mythenumwoben. Vom Irrsinn der letzten Kriegstage aber und von der Grausamkeit der SS können auch diese Ungenauigkeiten im Detail nicht ablenken. •

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