Kreuzberger Chronik
Mai 2009 - Ausgabe 107

Herr D.

Herr D, das Modell und der Hippie


linie

von Hans W. Korfmann

1pixgif
oder: Warum Günter nie studierte

KAUM SCHIEN die Sonne, waren alle Tische in Kreuzberg besetzt. Arbeit gab es eh kaum noch, und diejenigen, welche eine hatten, waren Freiberufler mit ungeregelten Arbeitszeiten. Also musste sich der Herr D. den Tisch mit einem potentiellen RTL-Supermodel, die in einer Brigitte blätterte, und einem langbärtigen Überbleibsel aus den Sechzigern, der im Tabakbeutel herumstocherte, teilen. Die Blonde bestellte ein Mineralwasser, der Raucher einen »kleinen Sauren«.
Als die Kellnerin mit dem gepiercten Bauchnabel in der Mitte ihres blassen Winterbauches den Hippie fragte, ob er auch eine Zeitung wünsche, schüttelte er den Kopf: »Überall das Unglück von Winnenden. Hörn Se mir auf mit Zeitungen.«
Der Herr D. empfand eine kleine Portion Mitleid mit dem weißen Bauch der Kellnerin und sagte zum Hippie: »War doch nett gemeint!«
»Wenn Sie Kinder hätten«, sagte da das RTL-Model zum Hippie »würden Sie sich auch Gedanken machen!« Herr D. war überrascht, dass Blondie sprechen konnte. Womöglich hatte sie den Satz gerade in der Brigitte gelesen.
»Ehrlich gesagt«, entgegnete der Hippie, »Ich weiß auch alles über Tim und seine Mitschüler und den Dackel vom Nachbarn. Aber wissen Sie, was ich nirgends gelesen habe: Warum das immer in den Schulen passiert? Und nicht im Schwimmbad. Diese jungen Menschen schießen ja nicht wahllos in die Gegend, sie zielen auf die Schule!«
»Die Schule ist Schuld?«, empörte sich das Model und klang einen Moment tatsächlich wie ein aussortiertes Next Topmodel.
»Die Schulen sind keine Lehranstalten mehr, sondern Aufbewahrungsanstalten. Da kommen Heimkinder bei raus.«
»Aber die Eltern müssen doch arbeiten gehen!« sagte Blondie. »Arbeiten?« lachte der Hippie. »Wo denn? Übrigens: Ich heiße Günter!« Günter reichte Blondie die Hand. »Und jetzt erzähle ich Ihnen mal was: Ich war 18, hatte gerade das Abitur geschrieben, da rief mich der Direktor zu sich. Ich hätte es versäumt, eine wichtige Hausarbeit abzugeben. Daher sei mein Abitur ungültig. Am Ende bezeichnete er mich als verlausten Hippie. Ich habe der Schule den Rücken gekehrt und nie studiert. Obwohl ich das gerne getan hatte. Jahre später – ich kam gerade aus dem Krankenhaus und sah fürchterlich aus – steht er mir plötzlich am Hauptbahnhof gegenüber. Er muss gedacht haben, ich sei einer von diesen Hauptbahnhof-Junkies. Er wurde rot vor Scham, drehte sich um und ging. Anstatt zu mir zu kommen und zu fragen: Was ist Ihnen denn passiert? Und soll ich ihnen sagen, was der Günter damals gedacht hat: »Den würd´ ich am liebsten abknallen, hat er gedacht!«
»Und heute?«, fragte der Herr D. »Ach…«, sagte der Hippie, »naja… wissen Sie, im Alter wird man milde. Lebenslänglich für alle Direktoren würde mir reichen!« •

zurück zum Inhalt
© Außenseiter-Verlag 2024, Berlin-Kreuzberg